Vereinigtes KönigreichEin kranker Junge, viel Brexit und noch mehr Lügen: Das Wichtigste vor den Unterhaus-Wahlen 

Vereinigtes Königreich / Ein kranker Junge, viel Brexit und noch mehr Lügen: Das Wichtigste vor den Unterhaus-Wahlen 
Mit dem Bagger durch die Pappwand: Boris Johnson braucht eine stabile Mehrheit, sonst ist er seinen Premier-Posten bald los (Foto: AFP/Ben Stanstall)

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Morgen werden im Vereinigten Königreich die 650 Abgeordneten des Unterhauses neu gewählt. Der konservative Premier Boris Johnson hatte die Neuwahlen im September ausgerufen, um eine stabile Mehrheit für seine Tories zu erkämpfen. Nur so kann Johnson sein mit der Europäischen Union ausgehandeltes Brexit-Abkommen fristgerecht zum 31. Januar vom Parlament absegnen lassen. Ein kleiner Überblick zu dem, was man vor den Wahlen am Donnerstag wissen sollte.

Über was reden die Briten gerade?

Über Jack. Seine Mutter hat den Jungen fotografiert, nachdem sie ihn in Leeds mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein Krankenhaus gefahren hat. Da dort kein Bett frei war, lag der Vierjährige am Boden im Gang des Krankenhauses auf einer Unterlage aus Wintermänteln und zugedeckt mit einer Weste, neben ihm eine Sauerstoffmaske. Das Foto spricht sinnbildlich für das seit den 1980ern und seit Margaret Thatcher kaputt gesparte britische Gesundheitssystem. Das Foto hat sich zum PR-Desaster für die Tories ausgewachsen. Als ein Reporter des Senders ITV Premier Johnson mit dem Foto konfrontiert, redet der erst nur über den Brexit – und schnappt sich dann das Mobiltelefon des Reporters und lässt es in der eigenen Sakkotasche verschwinden. Erst als der Journalist hartnäckig protestiert, reicht Johnson das Handy zurück und entschuldigt sich: „Ein schreckliches, schreckliches Foto.“ Jack geht es mittlerweile wieder gut. Er hatte nur eine Mandelentzündung, musste aber sieben Stunden warten. Und da liegt das Problem. Eine Studie, aus der der Guardian vorab zitierte, zeigt, dass die Wartezeit im Spital tödlich enden kann. Mehr als 5.000 Patienten starben demnach seit 2016 in britischen Notaufnahmen aufgrund zu langer Wartezeiten. Je länger die Wartezeit, desto höher die Sterbewahrscheinlichkeit – in den ersten sechs Stunden stirbt einer von 83 Patienten, nach neun Stunden bereits jeder 31.

Wie ist der Stand der Dinge, wer ist der Favorit bei den Wahlen?

Trotz solcher Skandale spricht viel für einen Erdrutschsieg der Tories von Premier Johnson gegen ihren Hauptkonkurrenten, die Labour-Partei und Johnson-Herausforderer Jeremy Corbyn. Der letzten YouGov-Umfrage vor den Wahlen zufolge könnten die Tories 339 von 650 Sitzen im Unterhaus erreichen. Bezieht man die statistische Fehlergrenze mit ein, kommt man auf 311 bis 367 Sitze. Mit 311 gebe es ein „hung parliament“, keine Partei hätte die Mehrheit.

Sind die Vorhersagen verlässlich?

Ganz im Gegenteil, Voraussagen bei Wahlen in Großbritannien liegen selten richtig. Das Wahlsystem, in dem in den 650 Wahlbezirken die Abgeordneten direkt gewählt werden, birgt immer wieder enormes Überraschungspotenzial. Auch bei diesen Wahlen gehen viele Beobachter von einem verstärkten taktischen Wählen aus. Das bedeutet, dass Anhänger kleinerer Parteien wie der Liberaldemokraten oder der Grünen, die dem Remain-Lager zuzurechnen sind, den Labour-Kandidaten in ihrem Wahlkreis wählen könnten, statt die eigene Stimme einem Kandidaten zu geben, dem kaum Chancen zugestanden werden, um so wiederum Johnsons Deal zu verhindern.

Welches Ergebnis brauchen die Tories?

Hier liegt das Problem bei der Wette, die die Konservativen mit den Neuwahlen eingegangen sind – bekommen sie keine stabile Mehrheit im Unterhaus auf die Beine, sind sie weg vom Fenster; verbündete Parteien, die sie vielleicht stützen könnten, sind ihnen keine geblieben. Das ist auch der Strohhalm, an den sich Corbyns Labour-Partei klammert – und mehr oder weniger heimlich mit ihr alle anderen Parteien.

Wieso liegt Johnson in den Umfragen so weit vorn?

Da sich die Wahlen vor allem um den Brexit drehen, hat Johnson einen bedeutenden Vorteil gegenüber Corbyn – eine klare Position. Johnson hat seinen Deal mit der EU, den will er durchbringen. Corbyn möchte einen neuen Deal verhandeln, dann ein weiteres Referendum ausrufen – dabei aber neutral bleiben. Das wirkt uneindeutig und unentschlossen zugleich und war Gift für die Labour-Kampagne, die auf dieser Flanke stets angreifbar war. Besonders da die meisten Briten nach dreieinhalb Jahren hin und her allem rund um den Brexit überdrüssig geworden sind. Johnsons zum Mantra gewordenen “Get Brexit done!” scheint auf der Insel auf offene Ohren zu treffen.

Jeremy Corbyn kann einen Capuccino kochen, doch die Briten scheinen seine Pläne nicht zu verstehen
Jeremy Corbyn kann einen Capuccino kochen, doch die Briten scheinen seine Pläne nicht zu verstehen (Foto: AFP/Daniel Leal-Olivas)

Aber Johnson ist ein notorischer Lügner, wieso konnte Labour diese offensichtliche Unzulänglichkeit nicht ausnutzen?

Die Antwort lautet wohl knapp: Jeremy Corbyn. Die Politologin Deirdre Heenan von der Ulster University geht gegenüber dem Tageblatt sogar so weit und sagt, ohne Corbyn stünden nicht die Tories, sondern Labour vor einem Erdrutschsieg. In der Tat sind die Konservativen seit zehn Jahren an der Macht. Zehn Jahre, während derer sie sich nicht mit Ruhm bekleckert haben, was einen Wechsel hin zu Labour eigentlich hätte begünstigen können. Doch Corbyn, der vor zwei Jahren noch wie ein Heilsbringer über Labour gekommen war, ist die Anziehungskraft verloren gegangen. Hinzu kommen, wie beschrieben, seine als alter Euroskeptiker unklare Brexit-Position und wohl auch seine umfassenden Verstaatlichungspläne, die vielen Briten nicht ganz geheuer sind. „Die Menschen interessieren sich nicht für diese Debatte, sie sehen nicht, wie das funktionieren kann“, sagt Heenan. Die Menschen sehen Johnson offenbar als geringeres Übel, so Heenan. „Die Menschen verbinden ihn mit Sozialismus, Trotzkismus und allem, was lange vorbei ist.“

Gibt es ein anderes Thema neben dem Brexit?

Ginge es den Tories nach, würde nur über den Brexit gesprochen. Egal welche Frage Johnson gestellt bekommt, seit Wochen antwortet der Premier nur mit Brexit, Brexit, Brexit. Doch Labour hat es immerhin fertiggebracht, ein weiteres Thema in den Wahlkampf zu pressen: die britische Gesundheitsversorgung. Der National Health Service (NHS) ist den Briten ebenso heilig wie es marode ist. Labour warnt, bei Johnsons Deal würde der NHS im Rahmen eines Handelsabkommens an die USA verscherbelt. Beide Parteien versprechen Investitionen. Hier ist Labour weitaus glaubwürdiger. Heenan findet es „bizarr, dass konservative Minister sagen: Räumen wir das Chaos der vergangenen zehn Jahre auf – dabei waren die Tories die ganze Zeit in der Regierung!“ Die ganze Zeit über erzählten die Tories, es gebe kein Geld für den öffentlichen Sektor. „Jetzt erzählen sie“, sagt Heenan, „dass es selbstverständlich Geld geben wird, auch für den NHS.“ Heenan wundert sich: „Man sollte meinen, dass es der Opposition einfacher fallen sollte, radikale Veränderungen zu versprechen.“

Welche Rolle spielen die Medien?

Nicht die beste. Viele tragen die Lügen der Tories mit – doch so war das schon vor dem Referendum im ersten Halbjahr 2016. Im Wahlkampf haben die Tories zum Beispiel behauptet, sie würden 50.000 Krankenschwestern einstellen. Dieses Versprechen wurde als Lüge enttarnt, denn 20.000 existieren schon, doch die Gesundheitsministerin wiederholt das immer wieder. „Die Tories sind dreist“, sagt Heenan, „die Wahrheit gerät unter die Räders“. Dennoch scheinen sie die Debatte in den Medien zu gewinnen. „Wenn wir später auf diese Zeit zurückblicken“, sagt Heenan, „werden wir sie als Ära der Fake News bezeichnen“.
Was war der letzte Skandal, kann der etwas bewegen?