Belarus / Ein Jahr nach dem Volksaufstand schlägt Lukaschenko wütend um sich – und hilft damit Putin
Vor einem Jahr fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt , die wohl nicht zum ersten Mal in den vergangenen Jahrzehnten von Machthaber Alexander Lukaschenko manipuliert wurden. Die darauf folgenden friedlichen Proteste weiter Teile der Bevölkerung ließ der Diktator gewaltsam niederschlagen, viele Demonstranten wurden ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Von der Hoffnung auf Freiheit ist nicht mehr viel übrig.
Masha tanzt. Sie formt mit ihren Fingern ein Herz, zeigt es lachend dem Sicherheitsbeamten, der ihren Käfig aus Glas und Stahl bewacht, spricht locker mit ihrem Anwalt, der ebenso wie in belarussischen Gerichten üblich im Käfig steht, tanzt weiter und schickt ein zweites Herz ins Publikum. Die absurd anmutende Szene stammt vom Prozessauftakt gegen Maria Kolesnikowa aus Minsk. Von ihren Unterstützern wird die Angeklagte liebevoll beim Kosenamen „Masha“ genannt.
„Masha – Heldin!“ hatte eine furchtlose Rentnerin auf ein Blatt Papier geschrieben und vor das Gericht getragen. Dort soll Maria Kolesnikowa zusammen mit ihrem Anwalt Maxim Snak wegen Hochverrats zu 12 Jahren Arbeitslager verurteilt werden. Laut der Anklage sollen die beiden einen Staatsstreich geplant und im Internet zu Aktionen aufgerufen haben, die die nationale Sicherheit gefährdeten.
Dieser Schauprozess unter Ausschluss unabhängiger Medien und sogar Familienangehörigen der Angeklagten war für das Regime in Minsk der Auftakt zum Jahrestag der angeblich glänzenden Wiederwahl des Langzeitpräsidenten Alexander Lukaschenko. Der Herrscher lädt am Montag zur Feier seines Siegestages noch zu einer ausführlichen Pressekonferenz mit angeblich über 300 Teilnehmern in seinen protzigen Palast.
Vor Jahresfrist war dieser noch mit hohen, mobilen schwarzen Metallmauern umgeben, während draußen auf den breiten Boulevards und Plätzen von Minsk Hunderttausende Lukaschenkos Abdankung und neue, diesmal freie und faire Wahlen forderten. Maria Kolesnikowa war eine dieser friedlichen und fröhlichen Demonstrantinnen. Sie rief immer zur Besonnenheit und zum Dialog auf, auch mit Russland, der wichtigsten Stütze des Autokraten.
In Belarus war damals etwas geschehen, womit niemand gerechnet hatte. Das als besonders langmütig geltende Volk war gegen seinen Herrscher, das Väterchen, „Batko“, das alles regelt und immer im Griff hat, aufgestanden. Lukaschenko hatte bisher mutmaßlich alle seine fünf Wiederwahlen gefälscht, völlig unnötig, wie Experten analysierten. Doch die angeblich 80 Prozent gegenüber nur 10 Prozent der Stimmen für die überaus beliebte Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja bei seiner sechsten Wiederwahl waren jener sprichwörtliche Tropfen, der am Wahlsonntagabend des 9. August 2020 das Fass überlaufen ließ. Statt der bisher rund tausend Dissidenten, die sich zumeist schon von der letzten Präsidentenwahl kannten, gingen plötzlich Hunderttausende auf die Straße.
Begonnen hatte alles mit dem russischen Präsident Wladimir Putin, der rund ein Jahr vor Lukaschenkos geplanter Wiederwahl an einen alten Unionsvertrag von 1999 zwischen Minsk und Moskau erinnerte, der die Bildung eines gemeinsamen Unionsstaates vorsieht. Russland begann, Belarus sein Erdgas und Rohöl nicht mehr zu Schleuderpreisen zu liefern und verlangte die Integration. Lukaschenko widersetzte sich Putins Wunsch, was ab Neujahr 2020 zu einer Wirtschaftskrise vor allem in der Provinz führte.
Staatschef empfiehlt Traktorfahren gegen Corona
Dazu kam Ende Februar die Corona-Krise. Lukaschenko hatte die Pandemie als Psychose bezeichnet und seinen Bürgern zu Saunabesuchen und Traktorfahren gegen das Virus geraten und sich so der Lächerlichkeit preisgegeben. Gleichzeitig wurden die Opferzahlen massiv nach unten korrigiert. Auf der Höhe der ersten Corona-Welle waren es nicht Behörden, sondern Bürgerinitiativen, die zu Social Distancing aufriefen, Masken nähten, Geld für Spitäler sammelten. Aktivisten der alten, marginalisierten und pro-europäischen Opposition engagierten sich in diesen Initiativen von unten, doch zogen diese Bürgeraktionen viele völlig neue Kreise der weitgehend passiven und unpolitischen Gesellschaft an.
Die gefälschten Corona-Zahlen führten auch zur Erosion der schon seit Jahren vom Regime kontrollierten Medien, vor allem des Staatsfernsehens. Auf der Suche nach glaubwürdigen Infos fanden viele Weißrussen zu jenen Telegram-Kanälen, die alsbald bei den Nachwahl-Protesten eine bestimmende Rolle spielen sollten. Sie machten Blogger, wie den Ehemann von Swetlana Tichanowskaja, Sergej Tichanowski, mit seinem russischsprachigen YouTube-Kanal „Ein Land für das Leben“ zu Stars. Lukaschenkos anfänglicher Umgang mit Corona erinnerte viele an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl von 1986. Wie damals wurde das Ausmaß der Katastrophe heruntergespielt.
Diese Empörung zog sich ab Mai in den beginnenden Wahlkampf, denn Lukaschenko hatte seine Wiederwahl vom Herbst auf Anfang August, mitten in die Sommerferien, vorgezogen. Aus dem Nichts meldeten sich viele Kandidaten, die nicht der alten Opposition angehörten. Darunter befand sich auch der Corona-Blogger Tichanowski, Swetlana Tichanowskajas Ehemann, der jedoch von den Sicherheitsbehörden bald festgenommen wurde. Dies stachelte die Empörung weiter an. Lukaschenko ließ alsbald auch den Ex-Banker Wiktar Babariko verhaften. Auch für die Kandidatur dieses bekannten Kunstmäzens hatten Zehntausende Weißrussen ihre Unterschrift gegeben. Unterschriftensammlungen waren plötzlich zu öffentlichen Happenings geworden und hatten die Bürger politisiert.
Nach Tichanowskis Verhaftung fand sich in der Not dessen Ehefrau Swetlana als Ersatzkandidatin. Lukaschenko ließ die Tichanowskaja gegen sich antreten, weil er sie total unterschätzte. Die 37-jährige Hausfrau und damals ausgesprochene Nicht-Politikerin erwies sich als ideale Projektionsfläche für die Wünsche und Hoffnungen der Weißrussen. Bei ihren Wahlkampfauftritten wirkte sie unsicher. Stimmung für sie machten die eingangs erwähnte Maria Kolesnikowa und Weranika Tsepkalo, die Ehefrau eines weiteren, von der Wahlkommission nicht zugelassenen Lukaschenko-Herausforderers.
Seit Neujahr ist wieder Ruhe im Reich des Machthabers
Poltische Inhalte bot Tichanowskaja damals noch kaum, immer hielt sie die Balance zwischen Moskau und Brüssel – ganz im Gegensatz zur pro-europäischen alten und heillos zerstrittenen belarussischen Opposition. „Ich will keine Angst mehr haben müssen“, war Tichanowskajas Leitspruch, mit der sie Anfang August trotz einer ersten Verhaftungswelle Tausende Bürger auf ihre Wählermeetings lockte. Damals konnte man fühlen, dass die lähmende Angst von den Belarussen abzufallen begann.
Die massiven Nachwahlproteste überraschten dennoch die meisten. Sie versetzten die Protestierenden, unabhängige Medien und viele Oppositionspolitiker in eine Euphorie. Mitte August kam eine Streikbewegung dazu, die bald die wichtigsten Staatsbetriebe in dem weitgehend nicht-privatisierten Land erfassten. Lukaschenko wurde von Arbeitern im Minsker Traktorenwerk ausgebuht. Der seit 1994 fest im Sattel sitzende Autokrat schien erstmals zu einem Rückzieher bereit. Er bot die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch Volksdelegierte und vorgezogene Neuwahlen an. Tichanowskaja, die gleich nach dem Wahltag unter massivem Behördendruck ins litauische Exil vertrieben worden war, und der in ihrem Umfeld gebildete „Koordinationsrat“, dessen Präsidium auch Kolesnikowa und Snak angehören, beharrte stattdessen auf Verhandlungen über eine friedliche Machtübergabe.
In der ganzen Zeit setzte der von Lukaschenko gekaperte Staatsapparat massiven Terror gegen die Protestierenden ein. Bereits in den ersten Protesttagen gab es mehrere Todesopfer, auch wurden junge Demonstranten tot in Wäldern bei Minsk aufgefunden. Hunderte wurden festgenommen und in der damals zumeist noch kurzen Haft erniedrigt, vergewaltigt und gefoltert. Als erstes bröckelte Ende August die Streikfront. Dann brach die Protestwelle in den wirtschaftlich viel schwächeren, auf Staatsbetriebe besonders angewiesenen, regionalen Zentren zusammen. In Minsk ließ das Regime massiv Armeetechnik und Sondertruppen aufmarschieren. Im frühen Herbst waren Proteste nur noch in Außenquartieren der Hauptstadt und zu Randzeiten möglich. Sie beschränkten sich nun auf weitgehend symbolische Aktionen mit verbotenen weiß-rot-weißen Flaggen, der Landesflagge vor Lukaschenkos erstem, damals noch demokratischen Wahlsieg vom Sommer 1994.
Der lachende Dritte ist Wladimir Putin
Seit Neujahr hat Lukaschenko wieder weitgehend Ruhe in seinem Reich. Ab und zu kommt es zu kleineren Zeichen des Widerstandes, ein paar Frauen mit weiß-rot-weißen Regenschirmen etwa. Dazu kommt ziviler Ungehorsam wie Steuerboykott oder der Rückzug von Spareinlagen auf Staatsbanken. In manchen Staatsfirmen wird gezielt gebummelt, die Produktion sackt immer noch ab.
Doch das Bild von 2021 wird beherrscht von Lukaschenkos Rache. Der Diktator lässt seine Justizorgane gerade die letzten unabhängigen Medien schließen und über 60 NGOs liquidieren. Dazu wird die Liste der für Jahre Weggesperrten weiterwachsen. Erst letzte Woche hat die zentrale Strafuntersuchungsbehörde bekannt gegeben, dass über 4.600 „Delinquenten“ noch auf Gerichtsprozesse warteten. Die meisten von ihnen werden verurteilt werden, so wie auch Maria Kolesnikowa, die sich Anfang September 2020 ihrer Zwangsdeportation in die Ukraine mutig widersetzte, indem sie ihren Pass zerriss. Die alte wie die neue Opposition, die sich inzwischen vor allem nach Warschau, Vilnius oder Kiew geflüchtet hat, vergleicht schon jetzt Lukaschenkos Säuberungswelle mit jener Stalins im sowjetischen Schreckensjahr 1937. Allerdings scheint Lukaschenko zumindest im Moment noch keine politischen Hinrichtungen zu planen, obwohl Belarus ja als letzter Staat in Europa die Todesstrafe kennt und auch vollstreckt.
Lachender Dritter ist Wladimir Putin. Nicht nur besucht Lukaschenko ihn seit Jahresbeginn wieder eifrig und besonders unterwürfig, er bietet dem Russen vor allem auch ein Feigenblatt für allfällige Probleme mit Menschenrechten und dem Rechtsstaat in Russland selbst. Dazu begibt sich Belarus, das im Umgang mit der EU keine roten Linien mehr kennt, wie der Fall Roman Protassewitsch im Mai und gerade aktuell die künstlich herbeigeführte Flüchtlingskrise an der Grenze zu Litauen zeigen, nun unweigerlich in die völlige Abhängigkeit Russlands.
EU droht Lukaschenko
Ein Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl in Belarus sitzt Machthaber Lukaschenko weiter fest im Sattel. Seine Gegnerin Tichanowskaja sieht ihre Landsleute angesichts zunehmender Repressionen in Angst und Gefahr. Wie geht es weiter?
Die Europäische Union hat dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko zum Jahrestag der mutmaßlich gefälschten Präsidentenwahl zusätzliche Sanktionen angedroht. „Die EU ist bereit, angesichts der eklatanten Missachtung internationaler Verpflichtungen durch das Regime weitere Maßnahmen in Erwägung zu ziehen“, erklärte ihr Außenbeauftragter Josep Borrell am gestrigen Sonntag im Namen der 27 Mitgliedsländer. Mit dem Ausnutzen von Migranten für politische Zwecke stelle Belarus weitere internationale Normen infrage.Borrell spielte damit darauf an, dass an der Grenze des EU-Mitglieds Litauens zu Belarus (ehemals: Weißrussland) allein im Juli mehr als 2.000 illegale Grenzübertritte registriert wurden. Aus EU-Sicht wird dies gezielt von der Regierung in Minsk betrieben. Lukaschenko hatte offen damit gedroht, als Reaktion auf die EU-Sanktionen Menschen aus Ländern wie dem Irak, Afghanistan oder Syrien passieren zu lassen.
Lukaschenkos Gegenspielerin Swetlana Tichanowskaja, die den Sieg der Wahl vom 9. August 2020 für sich beansprucht, fordert weiter mehr Druck auf den Machtapparat in Minsk. „Im Moment kann sich niemand sicher fühlen, auch ich nicht“, sagte die 38-Jährige, die jetzt im Exil lebt, der Deutschen Presse-Agentur. Die Oppositionspolitikerin verwies auf den Fall des Exil-Belarussen Witali Schischow, der kürzlich in der Ukraine tot aufgefunden wurde.Auch der Fall der belarussischen Olympia-Sportlerin Kristina Timanowskaja habe gezeigt, dass jeder Lukaschenkos „Repressionsapparat“ zum Opfer fallen könne. „Jede falsche Bewegung oder offene Äußerung – auch wenn sie nicht politisch ist – kann zu einer Festnahme und Gefängnisstrafe führen.“ Die Leichtathletin, die eigener Darstellung zufolge wegen Kritik an belarussischen Sportfunktionären von den Olympischen Spielen in Tokio entführt werden sollte, war nach Polen geflohen.Die EU erkennt Lukaschenko nicht mehr als Präsidenten an. Wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition verhängten die EU und die USA in den vergangenen Monaten bereits mehrfach Sanktionen.
Die EU forderte gestern auch die Freilassung von mehr als 600 politischen Gefangenen sowie freie und faire Wahlen. Die Forderungen des Westens prallen aber ab. Minsk hatte auch mit Gegensanktionen reagiert und etwa einen Verzicht auf westliche Waren angekündigt.Der von Russland und auch persönlich von Kremlchef Wladimir Putin unterstützte Lukaschenko betont immer wieder, die Revolution in seinem Land erfolgreich niedergeschlagen zu haben. Die Staatsmedien feierten den Jahrestag als neuen Sieg der Unabhängigkeit. Lukaschenko behauptet, die Revolution sei vom Westen angezettelt worden.Tichanowskaja wies das mehrfach zurück. Sie kämpft nun aus Litauen für die Demokratiebewegung. Bei einer USA-Reise wurde sie kürzlich von Präsident Joe Biden empfangen.
Solche Treffen seien sehr wichtig, damit die Ex-Sowjetrepublik nicht von der Tagesordnung verschwinde und verloren gegangene diplomatische Beziehungen wieder aufgebaut würden.Tichanowskaja unterstrich einmal mehr die Bedeutung westlicher Sanktionen. „Wir glauben, dass wirtschaftlicher und politischer Druck dazu beitragen kann, dass das Regime sein Verhalten ändert und es zwingt, einen Dialog mit den Belarussen aufzunehmen, politische Gefangene freizulassen und sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, sagte sie. Auch die vielen illegalen Grenzübertritte zeigten, dass Lukaschenkos Machtapparat „eine Bedrohung auch für Menschen anderer Länder“ sei. (dpa)
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Hat eis Chamber net irgendeen Text gestëmmt ? Ass epes draus gin oder läit en an engem Tirang ?
Wer sagt uns denn die Wahrheit, nämlich ob Lukaschenko die Wahl tatsächlich verloren hat ? Vielleicht hat er nur 60 Prozent der Stimmen bekommen ; aber dann wäre er immer noch der Wahlsieger, und die Opposition müsste das respektieren.
Ich habe manchmal den Eindruck, wie wenn hier im Westen einseitig Propaganda gegen Lukaschenko verbreitet wird.