Ein Jahr nach Breitscheid: Tränen, Trauer – und Selbstkritik

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Ein Jahr nach dem Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt hat Deutschland an die Opfer erinnert.

Ein Jahr nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche hat Deutschland an die zwölf Todesopfer und rund 100 Verletzten erinnert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) räumten Versäumnisse des Staates bei der Betreuung und Unterstützung der Angehörigen und Überlebenden ein. Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) bat die Betroffenen um Entschuldigung. Etliche von ihnen hatten sich über mangelnde Hilfe, fehlende Ansprechpartner und schleppende Entschädigungen beklagt.

Seit Dienstag erinnert am Tatort ein Mahnmal an den schlimmsten islamistischen Anschlag in Deutschland. Der tunesische Attentäter Anis Amri war am Abend des 19. Dezember 2016 mit einem gekaperten Laster in den Weihnachtsmarkt gerast. Wenige Tage später wurde er auf der Flucht in Mailand von italienischen Polizisten erschossen.

Manche Unterstützung für die Angehörigen der Opfer und für die Verletzten sei spät gekommen und unbefriedigend geblieben, sagte Steinmeier bei einer nicht öffentlichen Gedenkveranstaltung vor Hinterbliebenen in der Gedächtniskirche. „Viele Hinterbliebene und Verletzte – viele von Ihnen – haben sich nach dem Anschlag vom Staat im Stich gelassen gefühlt.“

„Schmerz und Leid nicht verdrängen“

Die Gesellschaft dürfe dem Terror nicht nachgeben. „Aber das darf nicht dazu führen, dass wir den Schmerz und das Leid verdrängen.“ Denn: „Dass wir miteinander traurig, miteinander wütend, miteinander fassungslos sind – auch das gehört zum Zusammenhalt, den wir brauchen, um gemeinsam unsere Freiheit zu verteidigen.“ An die Adresse der Verletzten und Hinterbliebenen sagte Steinmeier: „Ich will Ihnen versichern: Wir lassen Sie mit alldem nicht allein.“

Merkel sagte zu, Lehren aus den Erfahrungen im Umgang mit den Betroffenen zu ziehen. Gespräche mit den Hinterbliebenen hätten ihr gezeigt, welche Schwächen der Staat in dieser Situation gezeigt habe, sagte die Kanzlerin am Rande der Gedenkveranstaltungen. „Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen“, versprach sie. Dabei gehe es nicht nur darum, Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch darum, den Opfern dabei zu helfen, „möglichst gut wieder in das Leben hineinzukommen“.

Am Montag hatte Merkel etwa 80 Opfer und Hinterbliebene im Kanzleramt empfangen. Sie hatten der amtierenden Regierungschefin zuvor in einem offenen Brief Versagen vorgeworfen und kritisiert, dass sie nicht persönlich kondoliert habe. In einigen Monaten sei ein weiteres Treffen geplant, kündigte Merkel nun an.

Am Jahrestag des Anschlags gab es in Berlin unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen eine ganze Reihe von Gedenkveranstaltungen, zu denen neben 80 Opfern und Angehörigen auch rund 40 Helfer erwartet wurden. Der Weihnachtsmarkt blieb geschlossen. Das Mahnmal stellte Müller zunächst nur den Betroffenen vor, nach einer ebenfalls nicht öffentlichen interreligiösen Andacht in der Gedächtniskirche wurde es der Öffentlichkeit übergeben.

„Ein Symbol für Toleranz“

Ein knapp 17 Meter langer, goldener Riss im Boden soll den tiefen Einschnitt im Leben der Betroffenen symbolisieren. In den Treppenstufen vor der Kirche sollen die Namen der Toten aus sechs Staaten die Erinnerung wachhalten. „Der Anschlag hat geliebte Menschen aus unsere Mitte gerissen, die wir schmerzlich vermissen“, sagte Müller. Aber: „Wir wollen uns nicht durch Terror und Hass spalten lassen. Darum ist das Gedenkzeichen auch ein Symbol für Toleranz und gegen Verbohrtheit.“

Bei einer Gedenkstunde im Berliner Abgeordnetenhaus, bat Müller Verletzte und Angehörige der Toten um Verzeihung. Er räumte als demütigend empfundenes Verwaltungshandeln, fehlende Ansprechpartner und schwere Pannen bei der Verfolgung des Täters ein. „Wir können nun ahnen, wie tief Ihr Schmerz sitzt und dass das auch Wut auslöst.“ Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Kurt Beck, forderte feste Ansprechstellen für Betroffene und bessere Entschädigung.

Aus den Pannen gelernt?

Später gab es eine stille Mahnwache an der Gedächtniskirche. Immer wieder hielten Menschen inne, stellten eine Kerze ab oder legten Blumen nieder. Am Aband war noch eine Lichterkette geplant. Ab 20.02 Uhr, dem Zeitpunkt des Anschlags, sollten die Kirchenglocken zwölf Minuten läuten – zum Gedenken an die zwölf Todesopfer.

Der Attentäter Amri, der sich unter verschiedenen Identitäten als Asylbewerber in mehreren Bundesländern aufhielt, war den Behörden als sogenannter Gefährder schon länger bekannt. Dennoch wurde er nicht festgesetzt oder abgeschoben. Den Sicherheitsbehörden unterliefen schwere Pannen, Ermittlungsfehler und Fehleinschätzungen.

Nach den Worten von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zogen sie inzwischen Konsequenzen. Man habe aus dem Fall gelernt, in den vergangenen 365 Tagen sei viel dafür getan worden, „damit so etwas nicht noch einmal passiert“, twitterte er. Steinmeier beklagte, dass der Staat die Opfer nicht habe schützen können. „Unsere Haltung muss sein: Dieser Anschlag hätte nie passieren dürfen“, sagte er. „Wir müssen Versäumnisse aufklären und aus Fehlern lernen.“