Die Zerreißprobe: Warum am 11. November 1918 ein Krisenjahr in Luxemburg begann

Die Zerreißprobe: Warum am 11. November 1918 ein Krisenjahr in Luxemburg begann
Großherzogin Marie-Adelheid (l.), ihre Schwester Charlotte sowie US-General Pershing (3.v.l.) auf dem Balkon des großherzoglichen Palasts beim Empfang der amerikanischen Truppen am 21. November 1918.

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Großherzog Henri und Staatsminister Xavier Bettel werden am Sonntag in einer Gedenkzeremonie an den Waffenstillstand vor hundert Jahren erinnern. Für Luxemburg begann damals eine Phase mit unklarem Ausgang, bei dem sowohl die Dynastie als auch die Unabhängigkeit des Landes auf dem Spiel standen. Ein Krisenjahr, das als Blaupause für die parlamentarische Demokratie dient.

Als Emile Reuter am 19. Dezember 1918 in ein Automobil steigt, weiß er nicht, mit welcher Botschaft er in wenigen Tagen wieder in Luxemburg aussteigen wird. Wenn alles nach Plan verläuft, bleibt es beim Alten. Beim Status quo. Im schlimmsten Fall steht alles auf dem Spiel: die Existenz Luxemburgs als unabhängiges, neutrales Land mit großherzoglicher Monarchie.

Alles hängt davon ab, wie die französische Regierung, die gerade dabei ist, die Friedenskonferenz nach dem Großen Krieg vorzubereiten, Reuter empfangen wird. Als Staatsminister eines überfallenen Landes, das nun endlich vom Besatzer befreit ist. Das nun auf der Seite der Kriegsgewinner steht. Oder als Staat, der seinen Neutralitätsstatus verletzt hat und mit dem Deutschen Reich kollaborierte – dem Kriegsverlierer. Um die Entscheidung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, hat Reuter am Tag seines Aufbruchs die Mitgliedschaft Luxemburgs im Deutschen Zollverein nach 76 Jahren gekündigt. Doch als Reuter mit seinen Kabinettskollegen Nikolaus Welter und Auguste Liesch in Paris ankommt, lässt man die Luxemburger Delegation erst einmal warten. Vier Tage vergehen im regnerischen Paris bei außergewöhnlich milden Temperaturen. Erst am 23. Dezember erhält Reuter eine Antwort vom französischen Außenminister Stéphen Pichon. Sie ist ebenso kurz wie klar: Man rede nicht mit einem Vertreter der deutschfreundlichen Großherzogin.

Reuter weiß, was das bedeutet: Der konservative Politiker der Rechtspartei, der erst seit September die Regierung der nationalen Einheit anführt, muss der Großherzogin Marie-Adelheid eine besondere Botschaft zu Weihnachten überbringen: Sie muss abdanken.

Ein Hauch von Revolution

In Luxemburg sind dabei nicht alle so betrübt über die Lage wie Reuter. Im Gegenteil. Denn ähnlich wie in anderen europäischen Ländern hatte sich auch in Luxemburg analog zum Waffenstillstand eine revolutionäre Bewegung gegründet. Die Front verlagerte sich ins Innere der Gesellschaft. Die latenten Konfliktherde zwischen Sozialisten, Liberalen und Konservativen drohen die Staaten auseinanderzureißen. Zentral waren dabei sowohl soziale und wirtschaftliche Forderungen wie auch politische Teilhabe und die Abschaffung der Monarchie. Es war ein Flächenbrand, der sich über die von der Front rückkehrenden deutschen Soldaten verbreitete. Sie bildeten Räte und organisierten sich demokratisch. Im gesamten Deutschen Reich entstanden solche Soldatenräte, zu denen sich die Arbeiter anschlossen. So auch im Großherzogtum, das zu diesem Zeitpunkt de facto Bestandteil Deutschlands war.

Am 10. November 1918 versuchen Arbeiter- und Bauernräte in Luxemburg und Esch, die Revolution auszurufen. Sie fordern die Einführung der Republik, das allgemeine Wahlrecht unabhängig vom Geschlecht, die Verstaatlichung von Banken, Industrieunternehmen und Eisenbahn sowie den Achtstundentag. Am Montag, 11. November, macht das Escher Tageblatt mit den Worten auf: „Das Luxemburger Volk verlangt die Abdankung der Großherzogin.“

Doch die Räterepublik scheiterte schnell. Denn die Revolution konnte politisch kanalisiert werden. Es waren die Sozialisten, die die Forderungen der Straße aufgriffen und ins Parlament brachten. Sie organisierten eine Wahl über die Abschaffung der Monarchie. Doch das Anliegen scheiterte: Mit 21 Stimmen dagegen, 19 dafür und drei Enthaltungen wurde die sofortige Abschaffung der Monarchie abgelehnt. (Siehe auch Beitrag von Jacques Maas)

Damit konnte die Regierung Reuter der revolutionären Bewegung vorerst den Wind aus den Segeln nehmen. Doch der Burgfrieden wehrte nur kurz, denn das Parlament verabschiedete das Abhalten eines Referendums über die zukünftige Staatsform. Und als sich die Nachricht aus Frankreich Ende Dezember verbreitete, dass die Alliierten die Großherzogin als Kollaborateurin bezeichneten, forderten Liberale und Sozialisten erneut die sofortige Abdankung von Marie-Adelheid. Sie gründeten ein Komitee, das am 9. Januar 1919 abermals die Republik ausrufen ließ und diesmal auch die Unterstützung eines Freikorps von rund 150 Soldaten hinter sich hatte.

Ein historischer Treppenwitz

Doch die Sache ging erneut schief. Es mag wie ein historischer Treppenwitz klingen, aber es waren ausgerechnet Truppen der französischen Republik, die eingriffen und die alte Ordnung wiederherstellten. Allerdings gab die Regierung Reuter am Tag darauf bekannt, dass Großherzogin Marie-Adelheid zugunsten ihrer jüngeren Schwester Charlotte abdanken wird. Und in einem Referendum sollte das Volk über die Frage der Staatsform abstimmen.

Für Sozialisten und Liberale war das vorerst ein Erfolg: Die ungeliebte Fürstin war weg. So schrieb der linke Journalist Gust van Werveke erfreut: „Für die Fürstin der Rechtspartei, für die ‚princesse boche‘ war kein Platz auf dem Throne von Luxemburg. (…) Pfaffen und Preußen, Preußen und Pfaffen kneteten ihr weiches Hirn nach ihrem Willen.“

Das Krisenjahr 1919, das im November 1918 begann, bei dem Luxemburg als Staat vor dem Scheitern stand, auch vor dem Hintergrund annexionistischer Szenarien mit Belgien oder Frankreich, endete schließlich am 28. September 1919. Eine große Mehrheit von 78 Prozent stimmte für den Erhalt der Monarchie unter Großherzogin Charlotte – lediglich 20 Prozent waren für die Republik. Nur in einigen Arbeitergegenden in Esch und Rümelingen hatte es Mehrheiten für die Republik gegeben. Dabei waren es die ersten freien universellen Wahlen in Luxemburg, bei denen jeder Bürger über 21 ohne Wahlpflicht teilnehmen durfte. Der Historiker Michel Pauly spricht deshalb von einer „Monarchie von Volkes Gnaden“.

Luxemburg war am 11. November 1918 als vordemokratisches Land in ein Krisenjahr eingestiegen und stieg am 28. September 1919 als gestärkte konstitutionelle Monarchie wieder aus.