NS-BesatzungszeitDie vergessenen Opfergruppen in Luxemburg

NS-Besatzungszeit / Die vergessenen Opfergruppen in Luxemburg
Als weltanschauliche Gegner des NS-Regimes werden am 25./26. September 1942 die Zeugin Jehovas Ketty Federspiel und ihre sechs Kinder nach Leubus und später nach Bad Flinsberg und Wartha umgesiedelt. Dieses Foto zeigt Ketty und ihre Tochter Maria beim Küchendienst im Lager 116 in Bad Flinsberg.  MNRDH/Datum und Fotograf unbekannt

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Die Historiker Jérôme Courtoy, André Marques und Daniel Thilman beschäftigen sich mit dem Thema der vergessenen Opfergruppen während der NS-Diktatur (1940-44). Zu diesen Opfergruppen zählen u.a. die Zeugen Jehovas, die Schwarzen und das Fahrende Volk der Sinti und Jenische. Bis heute wurde die Verfolgung dieser während der NS-Besatzungszeit in Luxemburg lebenden Gruppen hierzulande kaum aufgearbeitet.

Jérôme Courtoy widmet sich den Zeugen Jehovas, André Marques beschäftigt sich mit der Verfolgung der hiesigen Schwarzen Menschen und Daniel Thilman mit dem Schicksal des Fahrenden Volkes. 

Die Zeugen Jehovas

Jérôme Courtoy
Jérôme Courtoy MNRDH

Tageblatt: Jérôme Courtoy, warum und wie wurden die Zeugen Jehovas überhaupt verfolgt?

Jérôme Courtoy: Oft genügten schon Kleinigkeiten, um von Nachbarn denunziert und daraufhin von den Nazis in ein Konzentrationslager gesteckt zu werden: Allein dafür, dass die Bibelforscher „Zeugen Jehovas“ sich aufgrund ihres Glaubens weigerten, den „Hitlergruß“ zu praktizieren, büßten sie oft schwer.

Seit wann sind die Zeugen Jehovas in Luxemburg präsent und wie verbreitetet die Gemeinschaft ihren Glauben?

Ihre Präsenz in Luxemburg ist in etwa seit Anfang der 1910er Jahre in Form von Missionierungsversuchen bzw. öffentlichen Versammlungen bezeugt. 1929 wurde der deutsche Einwanderer August Riedmiller von der Wachtturm-Gesellschaft der Zeugen Jehovas in Magdeburg nach Luxemburg als Missionar geschickt. Ihm folgten weitere Missionare. Somit fanden sowohl regelmäßige Veranstaltungen in der Stadt Luxemburg als auch in Esch/Alzette statt. Einige Luxemburger, wie Friedrich Gores, Nikolaus Federspiel und Eugène Reuter, begannen ab 1931 mit dem Missionsdienst, sie wurden jedoch von der örtlichen Polizei behindert. Durch eine Verschärfung des Fremdengesetzes 1932 kam noch hinzu, dass u.a. der deutsche Riedmiller und seine Ehefrau des Landes verwiesen wurden. Dadurch traten dann auch keine ausländischen Redner mehr in Erscheinung.

Gab es keine Reaktion in der Bevölkerung auf die Verschärfung des Fremdengesetzes?

Natürlich ging die Ausweisung Riedmillers nicht lautlos über die Bühne. Der luxemburgische Jurist und Abgeordnete René Blum (1889-1967) kritisierte diese Ausweisung als ein „Mittel der Regierung, um sich Andersgläubiger zu entledigen“. Blum verteidigte die Bibelforscher mehrmals vor Gericht. Somit geriet er selbst nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Mai 1940 ins Visier der Gestapo.

Begann die Verfolgung der Zeugen Jehovas sofort nach dem Einmarsch?

Etwa zeitgleich begannen bereits im Juni Ermittlungen gegen die 25 praktizierenden und nicht-praktizierenden Mitglieder der Gemeinde, siebzehn von ihnen wurden verfolgt. Hinzufügen muss man aber, dass die Zeugen Jehovas eigentlich in Luxemburg gar nicht offiziell existierten, doch wurden sie nach der Besatzung sofort verfolgt, weil sie in Deutschland bereits ab 1933 verboten waren. Verfolgt wurden sie u.a. natürlich auch wegen ihrer religionsbedingten Kriegsdienstverweigerung.

Wie verhielten sich die Zeugen Jehovas aufgrund dieser Verfolgungen?

Der im Juni/Juli 1940 festgenommene Eugène Reuter erklärte bei Verhörprotokollen, dass die Zeugen Jehovas, trotz Verbots, ihren „Verkündungsdienst“ und damit den Widerstand weiter fortsetzten würden. Er gab auch zu, dass die Zentrale der „Sekte“ – wie diese Gemeinschaft von den NS-Beamten genannt wurde –, in seiner Wohnung sei. Die Antwort der Nazis war gnadenlos, sie wurden systematisch verfolgt, es kam zu vielen Inhaftierungen. Einige der Festgenommen unterzeichneten, sicherlich aufgrund von Verhören und Folterungen, Verpflichtungserklärungen, denen zufolge sie nicht mehr als Bibelforscher tätig sein würden, und entgingen somit der Internierung in einem Konzentrationslager.

Unterschrieben alle diese Verpflichtungserklärungen?

Nur zwei Mitglieder der Escher Gemeinschaft, Nicolaus Federspiel und Viktor Bruch, blieben standhaft: Sie wurden deportiert und gelangten über die KZs Buchenwald und Ravensbrück bis nach Auschwitz. Am Tor mussten die Inhaftierten ihre Namen abgeben, sie wurden durch eine Nummer ersetzt und mit einem eigenen Erkennungszeichen stigmatisiert, dem „Lila Winkel“ auf dem blau-weiß gestreiften Hemd. Ihre Familien wurden umgesiedelt. Beide Inhaftierten wurden nach dem Krieg befreit.

Ausstellung 

2023 wird es im Escher „Musée national de la Résistance et des droits humains“ eine Ausstellung über die vergessenen Opfergruppen geben.


Schwarze Menschen

André Marques
André Marques MNRDH

Eine andere während der Besatzung verfolgte Gruppe, von der in Luxemburg sehr wenig bekannt ist, waren Schwarze Menschen. Mit diesem Thema befasst sich der Historiker André Marques.

Tageblatt: Wie war allgemein das Verhältnis der hiesigen Bevölkerung gegenüber Schwarzen Menschen?

André Marques: Viele Einheimische empfanden Schwarze Menschen als exotisch und fremd. Ein Gefühl, das sicherlich auch noch durch die regelmäßig stattfindenden Völkerschauen, auch Kolonialschauen oder Menschenzoos genannt, verstärkt wurde. Die Blütezeit dieser Schauen war zwischen 1870 und 1940.

Lebten viele Menschen schwarzer Hautfarbe in der Vorkriegszeit in Luxemburg und wenn ja, woher stammten sie?

Eine Gruppe waren Kinder, sie stammten von Luxemburgern, die in Kolonien lebten, oder aus Verbindungen mit einheimischen Kolonialangehörigen ab. Sie kamen oft sehr jung nach Luxemburg zu ihren Familien, um hier aufzuwachsen, das schon in der Vorkriegszeit. Dann gab es aber auch noch oft, wenn auch manchmal nur zeitweilig, Afroamerikaner im Land, die als Künstler, Entertainer oder Boxer auftraten.

Wann verschlimmerte sich der Status der schwarzen Bevölkerung in der Gesellschaft?

Der ohnehin schon schwierige Status der Schwarzen in der Gesellschaft verschlimmerte sich noch nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze von 1935. Diese Gesetze traten in Luxemburg sofort mit der Machtübernahme 1940 in Kraft.

Was waren die Konsequenzen dieser Verordnungen?

Die Konsequenzen für Künstler waren ein sofortiges Auftrittsverbot. Die Einheimischen verloren ihre Bürgerrechte und ihren Beamtenstatus. So zum Beispiel der schwarze Luxemburger Jacques Leurs. Er verlor seinen Beamtenstatus bei der Bahn. Im Juni 1941 wurde er wegen seiner Mischlingseigenschaften entlassen und musste fortan Zwangsarbeit bei der Arbed leisten. Ab Oktober 1942 wurde er wegen seiner Ehe mit der weißen Luxemburgerin Léonie Reinert stark unter Druck gesetzt. Ihm wurde mit einer Zwangsauflösung ihrer Ehe und mit Kastration gedroht.

Mit Kastration gedroht?

Die Zwangssterilisation war ein Schicksal, das viele Kinder aus sog. Mischehen erlitten. Die Nazis begannen bereits 1937 in Deutschland mit diesen illegalen Praktiken. Wie viele Schwarze Deutsche überhaupt sterilisiert wurden, ist nicht bekannt, da die offiziellen Zählungen bei 436 aufhören. Die tatsächliche Zahl liegt wohl weit höher.

Gab es noch andere Formen der Unterdrückung?

Natürlich versuchten die Nazis auch, sich des „Schwarzenproblems“ durch Zwangsausweisungen zu entledigen. Der Reichserlass von 1942 galt als Höhepunkt der NS-Repressionspolitik gegen Schwarze. Alle Informationen über Schwarze in Deutschland und in den besetzten Gebieten wurden erfasst. Daraus folgten Zwangsausweisungen, die eben genannten Zwangssterilisationen und Einweisungen in Konzentrationslager.

Was passierte in der Nachkriegszeit mit den Schwarzen Menschen?

Nach dem Krieg wurden die Schwarzen Menschen aufgrund ihrer „geringen Anzahl“ als Opfergruppe vergessen, obwohl in der historischen Forschung die Zahl der in KZs ermordeten Menschen afrikanischer Herkunft auf 2.000 geschätzt wird. Nicht berücksichtigt werden hier die zahlreichen Opfer der in Kriegsgefangenenlagern inhaftierten Afroamerikaner sowie der afrikanischen Soldaten der französischen, britischen und belgischen Kolonialtruppen.


Sinti und Roma

Daniel Thilman
Daniel Thilman MNRDH

Trotz intensiver Beschäftigung des Historikers Daniel Thilman mit dem Schicksal der Jenischen und Sinti in Luxemburg bleiben weiterhin viele Fragen offen. Es ist nach wie vor nicht möglich, darzulegen, ob es eine systematische Deportation von in Luxemburg ansässigen Sinti gab.

Tageblatt: Warum wurden die Sinti und Roma verfolgt, eingesperrt und teilweise sogar sterilisiert?

Daniel Thilman: Sinti und Roma galten bei den Nazis als minderwertig. Sie bildeten den Gegenpol zu dem von den Nazis gewollten Ideal von fleißigen, leistungsstarken und an der Fortentwicklung der deutschen „Rasse“ interessierten Deutschen.

Wie ging die Verfolgung vonstatten?

Im Dezember 1938 erließ SS-Chef Heinrich Himmler einen Erlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“. Es folgte ihre Erfassung und Internierung. Die Grundlagen für die systematische Vernichtung von hunderttausenden „Zigeunern“ waren damit gelegt. Dem vorausgegangen war schon 1933 das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, es ermöglichte Zwangssterilisationen von sogenannten Zigeunern. Die Nürnberger Rassengesetze schlossen dann 1935 Sinti und Roma genau wie die Juden aus der „Volksgemeinschaft“ aus.  Am 16. Dezember 1942 ordnete Heinrich Himmler im Auschwitz-Erlass an: „alle Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen.

Wie viele verfolgte luxemburgischen Sinti gab es denn?

Es können bislang zwanzig Sinti mit direkter Verbindung zum Großherzogtum genannt werden, die Opfer der Verfolgung wurden. Das sind in Luxemburg geborene und im Ausland verfolgte, oder in Luxemburg untergetauchte bzw. während der NS-Besatzung in Luxemburg lebende Sinti, aber auch hier geborene und hier lebende Sinti.

Sind sie namentlich bekannt?

Ja, so z.B. Margarethe Braun, eine 1903 in der Stadt Luxemburg geborene und im Ausland verfolgte Sinti. Sie wohnte mit ihrem Ehemann, dem Postbeamten Reinhold Adler, und sieben Kindern in Frankfurt am Main. Im Februar 1941 kam die gesamte Familie ins Internierungslager für Zigeuner. Am 9. März 1943 wurde sie mit ihrem Mann und sechs Kindern nach Auschwitz deportiert, wo sie am 3. August 1944 umkam. Genauso erging es Berta Kreitz aus Hellingen, sie starb am 10. März 1943 im Zigeunerlager in Auschwitz ebenso wie Anna Kreiz aus Mertert. Das Paar W.-P. lebte 1938 in Luxemburg-Stadt, wo auch ihr Sohn geboren wurde. Sie wurden im Mai 1940 nach Polen verschleppt. Es gibt lediglich gesicherte Erkenntnisse über das Überleben des Vaters August und des Sohnes Max. Hans Braun war ein in Hannover geborener Sinti, der sich öfters in Luxemburg versteckte, wo er auch Hilfe von Einheimischen erhielt. Er sprach von einem Sinti-Netzwerk, das in Luxemburg bestand und nie entdeckt wurde.

Ist bekannt, wie viele Sinti und Roma dem Nazi-Terror zum Opfer fielen?

Es wird geschätzt, dass in Europa zwischen 220.000 und 500.000 Sinti und Roma Opfer des Nazi-Terrors wurden.

Anordnung des Chefs der Zivilverwaltung an die Polizeidirektion und Landräte zur Ausführung des Reichsdeutschen Erlasses zur „Erfassung der Neger und Negermischlinge“ (28.10.1942)<br />
Anordnung des Chefs der Zivilverwaltung an die Polizeidirektion und Landräte zur Ausführung des Reichsdeutschen Erlasses zur „Erfassung der Neger und Negermischlinge“ (28.10.1942)
 Privatsammlung François Hausemer
Robert Hottua
1. Dezember 2022 - 20.29

1992 wurde ich in Walferdingen von einem in Luxemburg bekannten deutschen Psychiater auf die Tatsache von Gesinnungstatorten in Luxemburg hingewiesen. "Um eine Sozialreform durchzuführen, wie Herr H. sie plant, und um überhaupt eine Sozialreform im christlichen Sinne zu verwirklichen, muss erst die Masse aus der psychosenhaften Denkart in die sie der Liberalismus und der Sozialismus hineinverstrickt haben, herausgelöst werden. (…) (Luxemburger Wort, März 1933) Hier eine Beschreibung dieser Sozialreform: ▪ Geheime Reichssache Luxemburger Wort, 14.07.2008 NS-Vorschriften bahnten vor 75 Jahren den Weg zur Euthanasie Am 14. Juli 1933 trat in Deutschland das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft. Das sogenannte Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten hatte zwar bei weitem nicht die Ausmaße des Holocaust. Es war jedoch ein Vorläufer- und ein Testfeld für die quasi industrialisierte Tötung von unliebsamen Menschen. Ermordung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre verschaffte dem Gedankengut der Eugeniker weiteren Einfluss: sie schlugen vor, Armut medizinisch zu beseitigen und durch Sterilisierung zumindest weitere "Minderwertige" zu verhindern. In Deutschland wurden zwischen 1933 und 1945 rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Mehr als 5.000 Frauen und 600 Männer überlebten diesen Eingriff nicht. Systematisch wurden Polizei-, Fürsorge- und Krankenakten durchforstet, um möglichst jeden "Erbkranken" notfalls mit Polizeigewalt auf den OP-Tisch zu verfrachten. Psychiatrieprofessoren und Anstaltsdirektoren betätigten sich als Richter an den 220 Erbgesundheitsgerichten, Gynäkologen sterilisierten selbst zweifelhafte "Fälle", bei denen es eher um die Demütigung politisch Missliebiger ging. Die Forderungen nach einer "Vernichtung lebensunwerten Lebens" radikalisierten sich. Schon bald begannen die Nationalsozialisten in "geheimer Reichssache" mit der sogenannten "Kindereuthanasie". Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 5.000 Jungen und Mädchen ermordet. Zwischen Januar 1940 und August 1941 fielen der "Erwachseneneuthanasie" mindestens 70.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten zum Opfer. Die Aktion wurde nach dem Sitz der verantwortlichen Dienststelle in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin "T4" genannt. Gemordet wurde insbesondere in sechs Tötungsanstalten. (...) MfG Robert Hottua (Gründer der LGSP, um auf eine Opfergruppe hinzuweisen)