FeatureDie russische Freiheit – unterwegs in einem Land ohne Schulpflicht

Feature / Die russische Freiheit – unterwegs in einem Land ohne Schulpflicht
„Das Kind keineswegs als sein eigenes Projekt sehen“: Müde russische Erstklässler beim Unterrichtsbeginn Foto: dpa/Dmitri Lovetsky

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Auch dieses Jahr begann traditionell am 1. September die Schule in Russland. Viele Kinder aber bleiben zu Hause. Nicht wegen Corona, sondern weil ihre Familien sich bereits vor Jahren fürs Homeschooling entschieden haben. Denn eine Schulpflicht hat das Land nicht.

Jegor hatte es versucht. Er hatte die Vorbereitungskurse besucht, wie nahezu alle russischen Kinder ein Jahr vor Schulbeginn, hatte Gefallen an der Vorstellung „Schule“ gefunden. Die Enttäuschungen folgten bald: eine nicht bestandene Eingangsprüfung für die erste Klasse, der erste Schulwechsel, der zweite, der dritte, der vierte. Jegors „Ich hasse die Schule“ wurde immer lauter. „Er war vollkommen verloren“, sagt seine Mutter Lara Pokrowskaja heute in ihrem Wohnzimmer in Mytischtschi, einer Vorstadt von Moskau, wenn sie sich an die Schulzeit ihres Sohnes erinnert. Nach aufreibenden Jahren hatte sie schließlich einen Schritt gewagt, der ihr zunächst unvorstellbar erschien: Jegor wurde zum Homeschooler, und sie, die ausgebildete Ökonomin samt Psychologie-Zusatzdiplom, zur Managerin seines Bildungsprozesses. Eine Form, die heute in Russland immer mehr Eltern übernehmen, weil sie sich für die sogenannte „Familienbildung“ entscheiden. „Semejniki“ werden sie im Russischen genannt.

Jegor wurde ab der sechsten Klasse ein „Semejnik“, er lernte Russisch mit einer Nachhilfelehrerin, lernte Mathematik mit seiner Großmutter, brachte sich selbst Englisch bei. Am Ende jedes Schuljahres bestand er die vom Bildungsministerium nötigen Prüfungen. Heute arbeitet der 19-Jährige als Programmierer für ein Start-up und sagt: „Schule ist eine einzige Pflichterfüllung, der einzelne Mensch spielt dabei keine Rolle.“ Seine Schwester Sascha, ebenfalls Homeschoolerin, stellt sich Schule als „Uniform und seltsam schmeckendes Essen in der Kantine“ vor. „Quatschen mit Freundinnen in der Pause fände ich aber toll“, sagt sie. Die Elfjährige wird auch an diesem 1. September keinen Schulhof betreten. Sie hat noch nie eine Schule besucht.

Etliche Formen des Lernens

Russland hat keine Schulpflicht. Im Bildungsgesetz von 1992 wird lediglich auf die Bildungspflicht jedes Kindes verwiesen. Wie es zu dieser Bildung kommt, bleibt jeder Familie im Land selbst überlassen. Dabei gibt es etliche Formen des Lernens. Die gängigste ist freilich die staatliche Schule, die immer einengenderen Maßnahmen unterliegt. Disziplin, nicht das Hinterfragen von Vorgegebenem steht hier im Vordergrund. Privatschulen bieten mehr Wahlmöglichkeiten, sind aber oft mit weiten Wegen verbunden und finanziell nicht für jeden zu packen.

Manche Kinder bleiben an der Schule angemeldet, bekommen den Unterrichtsstoff nach Hause und schreiben die Prüfungen im Klassenraum. Manche gehen nur zu bestimmten Fächern in die Schule oder an bestimmten Tagen. Andere melden sich an einer Online-Schule an, haben dort eigene Mentoren oder schauen Unterrichtsstoff per Video. Manche sind nirgendwo angemeldet und leben das Unschooling, das Freilerner-Prinzip: Das Kind entscheidet, was und wie es lernt. Die Mittelstufenprüfung und das Abitur können die Homeschooler extern ablegen. So sucht sich jede Familie aus dem Baukasten von Bildungsangeboten das für sich Passende aus.

Wir nutzen diese Freiheit, solange sie uns vom Staat gelassen wird

Alexandra Iwlijewa, 32-jährige Juristin, die nun auch Kindergärtnerin ist – im eigenen Kindergarten

Dass Hausunterricht in den vergangenen Jahren in Russland in Mode gekommen ist, liegt laut Experten im Land am Wissen über kindliche Entwicklung in der Gesellschaft. Eltern hinterfragen ihre eigene sowjetische Erziehung, die zu großen Teilen auf Beschämung und Schuld setzte, und orientieren sich an den Bedürfnissen des Kindes. Bis zu 200.000 „Semejniki“ soll es in Russland geben, eine handfeste Statistik gibt es dazu nicht. Homeschooling ist für sie nicht erst seit der Corona-Pandemie Alltag. Es ist vielmehr eine Lebensphilosophie. „Wir nutzen diese Freiheit, solange sie uns vom Staat gelassen wird“, sagt Alexandra Iwlijewa, eine 32-jährige Juristin, die nun auch Kindergärtnerin ist, im eigenen Kindergarten.

Als sich ihre Tochter Alissa mit etwa drei Jahren immer mehr fürs Spielen mit anderen Kindern interessierte, machte sich Alexandra Iwlijewa auf die Suche nach der passenden Einrichtung für ihr Kind – und fand keine in der Nähe. Die Familie hat genug Auskommen, wohnt in einem der Villen-Siedlungen im Moskauer Nobelgebiet Rubljowka. Iwlijewa hat in Harvard studiert, schätzt, wie sie betont, die Freiheit in der Wissenschaft und im Leben. Ihr Kind sollte „Raum für sich haben, eine glückliche Kindheit“. Sie störe das sowjetische „nado“ (man muss) – ein Konzept, das auf Zwang hinausläuft. „Man muss“ beim Eintritt in die Schule fließend lesen können, „man muss“ das Bild so ausmalen, wie es die Erzieherin vorgegeben habe, „man muss, man muss, man muss“. „Aber für wen ist das denn ein ,nado‘? Für die Kinder sicher nicht“, sagt Iwlijewa.

Kurz vor dem Lockdown in Moskau im vergangenen Jahr startete sie etwas, was geradezu revolutionär ist in einem Land, in dem manche Erzieherinnen – ohne einen Skandal damit auszulösen – bis heute Kinder in die Ecke stellen oder ihnen die Arme nach hinten drehen, um das Mittagessen in sie hineinzulöffeln: Sie gründete den landesweit ersten reinen Spielkindergarten. Für viele im Land ist das eine grässliche Vorstellung: „Aber da lernen die Kinder ja nichts!“

Ihr Sadik-Scharik, der „Kugel-Kindergarten“ in der Siedlung Maloje Sarejewo, 30 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernt, ist schon durch seine kugelförmige Form auffällig. Zwölf Kinder besuchen das zweistöckige Gebäude, bis zu sechs Erwachsene kümmern sich um sie. Umgerechnet knapp 900 Euro zahlen die Eltern für die Betreuung von 9.30 bis 18.30 Uhr. „Ich sehe, wie die Kinder aufblühen, wenn man sie ernst nimmt und ihnen vertraut, und ich wünsche mir, dass ein solches Vorgehen auch immer mehr staatliche Einrichtungen erreicht“, sagt Alexandra Iwlijewa.

Vier Jahre Freilernerin

Noch aber stehe nicht das Kind im Mittelpunkt der Bildungseinrichtungen, sagt Xenia Marsowa von InternetUrok („Internet-Stunde“). Die Online-Schule profitiert vom rigiden System der staatlichen Schulen – indem sie den Unterricht freier gestaltet. Ab umgerechnet 30 Euro im Monat bietet sie Homeschoolern, Unschoolern, aber auch Schülern der staatlichen Schulen die Möglichkeit, sich Wissen anzueignen. Im eigenen Tempo, zur eigenen Wunschzeit. Hausaufgaben, Prüfungen und Noten gibt es auch bei InternetUrok. „Aber wir orientieren uns am Kind und pflegen die Prinzipien: Erstaunen, Spaß, Begeisterung, Erfolg“, sagt Xenia Marsowa. 17.500 Schüler sind bei der Online-Schule angemeldet, es sind Kinder, die in der staatlichen Schule gemobbt wurden, die wegen Wettkämpfen oder Auftritten oft unterwegs sind, die aufgrund ihres Handicaps kaum Zugang zur staatlichen Schule haben. Es sind auch Kinder aus kleinen Dörfern ohne eine Schule in der Laufnähe oder aus überfüllten Klassen in Großstädten. Es sind Mädchen und Jungen aus multinationalen Familien, die woanders in eine staatliche Schule gehen, aber auch den Zugang zum russischen Unterrichtsstoff erhalten sollen. Religiöse Familien, die von staatlichem Einfluss auf ihren Nachwuchs nichts halten, profitieren ebenfalls von Russlands freiem Bildungsgesetz.

„Fürs Homeschooling muss man bereit sein und das Kind keineswegs als sein eigenes Projekt sehen“, sagt Oxana Aprelskaja aus Chimki bei Moskau. Zwei Jahre lang habe sie ihrem Mann, der das Kind nicht an einer staatlichen Schule anmelden wollte, „Widerstand geleistet“, wie sie sagt. Heute ist die Journalistin überzeugt: „Die Schule, wie wir sie kennen, ist stark entfernt vom Leben eines Kindes.“ Ihre 14-jährige Tochter Sascha hat nie eine Schule besucht. Die ersten vier Schuljahre war sie Freilernerin. Seit der fünften Klasse lernt sie an einer Online-Schule. „Unsere Tochter ist bestens sozialisiert, der Vorwurf, Homeschooler seien unsoziale Wesen, die nie gelernt hätten, mit unterschiedlichen Menschen Konflikte zu lösen, ist fern der Realität.“

Für Sascha sei diese Form des Lernens „genau die ihre“, für ihren Sohn Dima dagegen „absolut nicht geeignet“, sagt Oxana Aprelskaja. Der Achtjährige besucht eine Waldorfschule. „Wir brauchen mehr Bildungsprojekte“, sagt die 36-Jährige. Auch Alexandra Iwlijewa vom Kugel-Kindergarten wünscht sich, dass Kinder anders an die Sachen herangehen, als sie es noch selbst gelernt habe. Freier. „Vielleicht ändert sich dann auch das System hier.“

J.C. Kemp
12. September 2021 - 15.14

In den ach so freiheitlichen USA gibt es übrigens auch keine Schulpflicht. Was besonders eifrig von Evangelikalen für Homeschooling genutzt wird. Deshalb wachsen in jenem Land so viele religiotische Deppen heran, Beispiel Texas.

HTK
11. September 2021 - 14.53

" Bildung als Gefahr für Despoten und Diktatoren?" "Ein gewisses Maß an Dummheit kann dem Konsum nur von Nutzen sein." ( Lothar Dombrowski alias G.Schramm )