Madrid / Die NATO schreibt Geschichte – beim Gipfel gelingen mehr Vorsätze als erwartet

„Die NATO ist zurück“: die Staats- und Regierungschefs beim Gruppenfoto (Foto: AFP/Pierre-Philippe Marcou)
Bei ihrem Gipfel in Spanien gelingen der NATO mehr Vorsätze als erwartet, um sich angesichts des russischen Angriffskrieges geschlossen und entschlossen zu zeigen.
Zwei spanische Polizisten suchen mit ihren andalusischen Schimmeln Schutz im Schatten einer Mittelmeerkiefer. Die Temperaturen klettern auf 32 Grad, während sie das abgeriegelte Messegelände der Metropole Madrid nahe des Flughafens bewachen. Sie helfen dabei, Geschichte zu schreiben, denn drinnen, in den klimatisierten Hallen, geht ein NATO-Gipfel über die Bühne, der das Bündnis für Jahrzehnte prägen wird. Der mächtigste Mann hat die prägnanteste Formel für die Folgen der Zeitenwende mitgebracht: Putin habe die „Finnlandisierung“ Europas gewollt; er bekomme jetzt die „Natoisierung“, stellt US-Präsident Joe Biden mit sichtlicher Befriedigung fest.
Finnlandisierung, das steht für die Beherrschung eines fremden Landes, das sich aus Furcht vor der Übermacht des Anderen in vorauseilendem Gehorsam einrichtet. So wie Finnland im Verhältnis zur Sowjetunion. Das andere Wort ist Bidens Erfindung. Und es hat wieder mit Finnland zu tun. Nach dem brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Finnen beschlossen, zusammen mit den bislang nicht minder neutralen Schweden den Schutz der NATO zu suchen. Der Gipfel verdichtet an diesem Mittwoch die Politik der offenen Tür (für souveräne Staaten als neue Mitglieder) mit großer Symbolik zum Bild der offenen Arme: Der finnische Präsident Sauli Niinistö und die schwedische Magdalena Andersson treffen als Gäste des Gipfels ein, nehmen am Tisch der 30 Staats- und Regierungschefs der NATO Platz.
Durchbruch zum Dinner
Noch am Montag war dieses Bild nicht mehr als eine pure Hoffnung. Jedes NATO-Mitglied muss einer Neuaufnahme zustimmen. Das hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan genutzt, um den Beitritt auszubremsen. Die Toleranz der Skandinavier gegenüber Menschen, die die Türkei als Terroristen betrachtet, war für ihn nicht das einzige Hindernis. Mehrere Vermittlungsversuche blieben erfolglos, Diplomaten rechnen noch zu Beginn eines weiteren Vierer-Treffens zwischen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Erdogan, Ninistö und Andersson am Dienstagnachmittag mit keinem Durchbruch. Sie richten sich auf weitere Wochen ein. Ohnehin müssen die Parlamente aller 30 NATO-Staaten Ja sagen. Das dauert ohnehin noch viele Monate.
Doch um 20.12 Uhr ist es geschafft, und damit rechtzeitig zum Gala-Dinner aller Gipfelteilnehmer bei Spaniens König Felipe. Noch vor der Vorspeise steht ein dreiseitiges Dokument mit zehn Punkten. Was hat Erdogan plötzlich einlenken lassen? Dass Stoltenberg ihn in dem kleinen Verhandlungsraum im demonstrativen Schulterschluss neben sich platziert, mit den Beitrittswilligen gegenüber? Die Zugeständnisse der Skandinavier im Umgang mit der PKK und anderen Organisationen, ihre Bereitschaft, von der Türkei Gesuchte auszuliefern und ihr Vorsatz, Ankara beim Andocken an die EU-Verteidigungspolitik zu unterstützen?

Vieles spricht dafür, dass auch der Kontakt mit Biden in Madrid eine Rolle gespielt haben könnte. Die Welt wird sehen, ob die Türkei künftig wieder Zugang zu modernen US-Waffen hat. Jedenfalls betont Stoltenberg noch am Abend, dass es zwischen NATO-Partnern kein Waffenembargo geben sollte. Am nächsten Morgen wird der deutsche Kanzler Olaf Scholz damit konfrontiert. Deutschland tut sich schließlich schwer damit, die Türkei mit Waffen zu versorgen, die bei ihren Militäroperationen etwa in Syrien verwendet werden könnten. Doch Scholz brummt nur: „Es gibt keine Embargen.“
Entschlossenheit im Halbstundentakt
Es gibt in Madrid vor allem Entschlossenheit im Halbstundentakt. Biden listet auf, dass die USA seit Russlands Kriegsbeginn 20.000 mehr Soldaten nach Europa gebracht hätten, dass die Polen nun ein US-Hauptquartier bekämen, die Luftverteidigung in Deutschland gestärkt werde. Im nächsten Jahr will die NATO die schnell einsatzbereiten Truppen von 40.000 auf über 300.000 hochgefahren haben. Mehrfach erwähnt Stoltenberg das deutsche Beispiel einer zusätzlichen Brigade, deren Soldaten zwischen Litauen und ihrer Stationierung in Deutschland hin und her pendeln werden. Was sie für den Einsatz brauchen, wird dort deponiert. Auch wo sie mit welchen Partnern bei einem russischen Angriff die Verteidigung übernehmen, werden sie dann ständig üben.
Das gehört zur NATO-Ansage von Madrid: „Every Inch“, jeden Zentimeter des NATO-Territoriums, wolle das Bündnis jederzeit verteidigen, diese Beistandspflicht sei „heilig“, betont Biden. Das Bündnis wird für eine gesteigerte Kampfkraft viel mehr Geld in die Hand nehmen. Dank des 100-Milliarden-Sondervermögens gehört Deutschland bei der NATO mal nicht zu den Kritisierten, sondern zu den Gelobten.

Am Nachmittag wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video in den Sitzungssaal geschaltet. Er beschreibt Russland wegen der jüngsten Angriffe auf zivile Ziele als Terrorstaat, bittet erneut um mehr Artillerie, um „für die NATO“ das russische Vorrücken stoppen zu können und warnt vor den Folgen, wenn dies der Ukraine nicht gelinge. Dann könnten das Baltikum und Polen Russlands nächste Ziele sein. Der Gipfel versichert ihm den Rückhalt. „So lange und so intensiv, wie es nötig ist“, versichert Scholz. Das könne lange dauern, sagt Selenskyj. Aus Madrid bekommt er die Antwort: Darauf sind wir vorbereitet.
Für diese und viele weitere Beschlüsse und Verabredungen rund um ein neues strategisches Konzept findet der niederländische Regierungschef Mark Rutte eine Zusammenfassung: „Die NATO ist zurück.“
Die NATO hat ein neues Strategisches Konzept – was steht da drin?
Zwölf Jahre nach ihrem letzten Strategischen Konzept hat die NATO am Mittwoch bei ihrem Gipfel in Madrid das zweitwichtigste Grundsatzpapier der Allianz nach dem Nordatlantikvertrag neu geschrieben und beschlossen. Das Bündnis will sich damit für die Herausforderungen dieses Jahrzehnts wappnen und rüsten. Hier die wichtigsten Punkte des neuen Konzeptes.
Russland Die NATO erklärt Russland zur größten Bedrohung für ihre Sicherheit. Wörtlich heißt es in dem Papier mit seinen insgesamt 49 Unterpunkten: „Russland ist die bedeutendste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Alliierten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum.“ Die NATO selbst suche keine Konfrontation mit Russland und bedrohe es auch nicht. Das Bündnis werde aber weiter auf russische Bedrohungen und feindliche Aktionen von Moskau „gemeinsam und verantwortlich“ handeln. Die NATO wolle Stabilität und Berechenbarkeit sowohl auf dem Territorium seiner Mitglieder wie auch im Verhältnis zu Russland.
China Die NATO sieht auch China mit seinen rund 1,4 Milliarden Einwohnern als Gefahr für ihre Sicherheit. China nehme mit „bösartigen“ hybriden Attacken und Cyber-Operationen sowie seiner feindlichen Rhetorik wie auch Desinformation alliierte Partner ins Visier und bedrohe so die Sicherheit der Allianz. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte: „China teilt nicht unsere Werte.“ China und Russland versuchten durch ihre „vertiefte strategische Partnerschaft“, die regelbasierte internationale Ordnung zu unterlaufen. Allerdings bleibe die NATO offen für einen konstruktiven Austausch mit China.
Streitkräfte Die NATO will ihre Kampfkraft massiv erhöhen und ihre schnelle Eingreiftruppe von bislang 40.000 Soldaten auf künftig 300.000 Soldaten deutlich vergrößern. Schwere Waffen und Gerät sollen dann bereits in möglichen Einsatzgebieten vorgehalten werden. Das Bündnis will damit vor allem an seiner Ostflanke, wo es derzeit die größte Bedrohung sieht, schnell reagieren können.
Energie Die NATO will auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ihre Energiesicherheit stärken und in eine stabile und verlässliche Energieversorgung aus berechenbaren Quellen investieren. Ebenso will das Bündnis seine Fähigkeit verbessern, auf den Einsatz von Energie in feindlicher Absicht zu reagieren und den Übergang zur Verwendung von sauberen Energien für seine Streitkräfte so zu organisieren, dass die Kampfkraft seiner Truppen nicht beeinträchtigt werde.
Klima Das Bündnis stellt mit dem neuen Konzept erstmals auch den Klimawandel als einen zentralen Punkt seiner Aufgaben heraus. Konflikte und Instabilitäten im Mittleren Osten, in Nordafrika und in der Sahel-Zone seien unter anderem auch durch die Folgen des Klimawandels ausgelöst. Klimawandel sei eine der großen Herausforderungen dieser Zeit und wirke sich auch grundlegend auf die Sicherheit der NATO aus. Denn Hitze und Dürren beeinträchtigten auch die Art der militärischen Missionen, wenn Truppen des Bündnisses in Regionen mit extremen Temperaturen eingesetzt würden.
(Holger Möhle)
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Wenn Litauen den Russen den Weg nach Kaliningrad versperrt und die NATO dort Truppen zusammenzieht, braucht man kein Fachmann zu sein um vorauszusehen dass es hier bald zur direkten Konfrontation von Russland und NATO kommen wird!