UkraineDie letzten Stunden von Mariupol

Ukraine / Die letzten Stunden von Mariupol
Die 440.000-Einwohner-Stadt Mariupol ist nach 51 Tagen russischer Umzingelung fast komplett zerstört Foto: dpa/Maximilian Clarke

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Ein Kommandant der ukrainischen Streitkräfte richtete einen verzweifelten Hilfsappell „an alle Anführer der Welt, uns zu helfen“. Sie sollten die ukrainischen Soldaten herausholen und in einen „Drittstaat“ bringen. Putin dürfte bald die endgültige Einnahme Mariupols verkünden.

Normalerweise ist er die Ruhe in Person. „Ich kenne das Asowstal-Werk, ich habe selbst dort gearbeitet, wir brauchen zwei bis drei Tage lang einen humanitären Korridor, helft uns endlich!“, fleht Serhij Taruta auf einer Videoaufnahme. Der Abgeordnete sitzt in schwarzer Jacke in einem Büro und soll in einer Zoom-Schalte für ein ukrainisches Fernsehen über die Lage in seiner Heimatstadt Mariupol sprechen. Doch die TV-Journalistin hat keine Geduld, sie will über ein Todesopfer bei einem Raketenanschlag im Nord-Donbass berichten. Taruta hingegen stammt aus dem Süden, er ist ein Mann des Asowschen Meeres, der Hafenstadt Mariupol. Gerade wurde das Werkspital des Metallurgiekombinats „Asowstal“ bombardiert. „Mindestens 300 Zivilisten, darunter Kinder, sind dort gefangen“, überschlägt sich Tarutas Stimme.

Wo sich der ukrainische Abgeordnete und einst sehr einflussreiche Oligarch aufhält, ist unklar. Klar ist nur, dass Tarutas Herz für Mariupol schlägt. Die 440.000-Einwohner-Stadt ist seit 51 Tagen von russischen Truppen umzingelt. Der Belagerungsring hat sich immer mehr zusammengezogen. Am Mittwoch war nur noch das Kombinat von der Größe des Vatikans in ukrainischen Händen. Die einstigen gut 10.000 Arbeiter sind längst geflohen, der Hochofen längst abgeschaltet. Verschanzt haben sich in der Industrieanlage am Meeresufer die letzten verbliebenen Verteidiger der praktisch ganz zerstörten Hafenstadt. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Laut den Angaben der russischen Invasoren sollen sich noch knapp 3.000 ukrainische Soldaten und etwa 1.000 Zivilisten dort aufhalten. Letztere würden als „lebende Schutzschilde“ missbraucht, heißt es in Moskau.

Das ist unser Appell an die Welt – und das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein

Serhii „Wolyna“ Wolynsky, ukrainischer Marineinfanterie-Kommandant in Mariupol

Das russische Verteidigungsministerium hat angeblich deshalb einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen und die Soldaten aufgerufen, sich zu ergeben und alle evakuieren zu lassen. Die beiden zuständigen ukrainischen Kommandanten indes trauen diesem „grünen Korridor“ nicht. In der Nacht zum Mittwoch hat der Marineinfanterie-Kommandant Serhii Wolynskyj, Kampfname „Wolyna“, die internationale Gemeinschaft in einer dramatischen Videobotschaft dazu aufgerufen, Soldaten und Zivilisten in ein Drittland zu evakuieren. Die Evakuierung könnte über den firmeneignen Hafen oder per Helikopter erfolgen, schlug er vor. „Der Feind ist zehnmal stärker als wir, wir haben 500 verwundete Soldaten und Hunderte Zivilisten“, sagte er. „Das ist unser Appell an die Welt“, sagte Wolyna. „Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein.“

Screenshot aus dem Videoappell des ukrainischen Marineinfanterie-Kommandanten Serhii Wolynskyj
Screenshot aus dem Videoappell des ukrainischen Marineinfanterie-Kommandanten Serhii Wolynskyj Foto: Screenshot Telegram

Kämpferischer zeigt sich der zweite Kommandant, Swiatoslaw Palamar, Kampfname „Kalina“, von dem wegen rechtsradikaler Strömungen umstrittenen Freiwilligenbataillon „Asow“: „Wir werden kämpfen bis zur letzten Patrone, aber wir fordern das Vaterland auf, unsere Zivilisten zu retten.“

Die Ukraine hat nach eigenen Angaben mit Russland eine vorläufige Vereinbarung über die Einrichtung eines Fluchtkorridors für Frauen, Kinder und ältere Menschen aus der schwer umkämpften Hafenstadt erzielt. „Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Mariupol werden wir unsere Bemühungen heute darauf konzentrieren“, schrieb die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk am Mittwoch auf Facebook. Die Kommandanten Palamar und Wolynskyj reagierten darauf bislang nicht öffentlich.

Russland belegt die Ostukraine mit Bombardements

Russland intensiviert seine Angriffe in der Ostukraine. Das russische Militär beschoss dabei nach eigenen Angaben in der Nacht zu Mittwoch 1.053 ukrainische Militärstandorte. Dabei seien 106 Geschützstellungen zerstört worden, teilte das russische Verteidigungsministerium am Mittwoch mit.
Die russischen Streitkräfte versuchten in der Ostukraine, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, teilte der britische Militärgeheimdienst in einem neuen Lagebericht mit. Nach Angaben eines Beraters von Präsident Wolodymyr Selenskyj hätten ukrainische Truppen aber etwa den Vormarsch auf die Stadt Slowjansk gestoppt.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow warf der Ukraine unterdessen vor, Zusagen bei den Gesprächen für ein Ende der Kämpfe nicht einzuhalten. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte zugleich beim Test einer neuen ballistischen Rakete, dass diese alle nachdenklich stimmen sollte, die Russland bedrohten.
Gerade angesichts der nun einsetzenden Materialschlacht in der Ostukraine hatten westliche Staaten wie die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich am Dienstag verabredet, der Ukraine auch schwerere Waffen zu liefern.

Die Europäische Union will der Ukraine weitere 1,5 Milliarden Euro an Militärhilfe zukommen lassen. Dies gab EU-Ratspräsident Charles Michel bei einem überraschenden Besuch in Kiew bekannt. (Reuters, AFP)

An die im „Asowstal“-Werk Verbliebenen war das Angebot offenbar auch nicht gerichtet. Am Mittwochnachmittag meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass in der belagerten Stadt mehrere Busse mit Zivilisten von einem ausgewiesenen Evakuierungspunkt aufgebrochen sind. Zwei Reuters-Mitarbeiter sahen demnach zuvor, wie Dutzende Menschen einstiegen. Die Behörden der Küstenstadt haben erklärt, etwa 6.000 Menschen über einen Korridor herausbringen zu wollen.   

Erinnerungen an 2014 dienen jetzt als Warnung

Die beiden Truppen haben sich erst kürzlich auf dem weitläufigen Gelände des Kombinats mitten im östlichen Teil der Stadt unweit des beliebten Wohnquartiers „Lewobereschnaja“ vereinigt. Bisher hatten sie verschiedene Frontabschnitte innerhalb der Großstadt gehalten. Und bereits mehrmals hatten beide angeblich gut gemeinte russische „Angebote“, sich kampflos zu ergeben, verstreichen lassen. Beide Offiziere erinnern sich nur zu gut an den „grünen Korridor“ der umzingelten Kleinstadt Ilowajsk im Donbass, wo die prorussischen Separatisten 2014 Ähnliches angeboten hatten und dann den abziehenden ukrainischen Soldaten in den Rücken gefallen waren. Hunderte weitgehend wehrlose Soldaten wurden damals getötet.

Die Stadt Mariupol selbst ist inzwischen in russischen Händen. Die rund 120.000 verbliebenen Einwohner wurden aufgefordert, sich zu registrieren und weiße Armbänder zu tragen. Wer sich weigere, werde als Feind betrachtet und erschossen, berichtet auf seinem Telegramkanal Petro Andriuschstschenko, ein Berater des Bürgermeisters. „Die Russen verwandeln Mariupol in ein Ghetto für Ukrainer“, klagt Andriuschstschenko. Dazu sollen Z ehntausende Einwohner inzwischen gegen ihren Willen nach Russland evakuiert worden sein. Ein Evakuationszug nach Zaporosche, das noch von Kiew kontrolliert wird, sollte am Mittwochmittag losfahren. Rund 6.000 Einwohner sollten so evakuiert werden, hieß es in Kiew. Bis Redaktionsschluss war weder klar, ob der angebliche russische Waffenstillstand von den Invasionstruppen eingehalten wurde, noch ob der humanitäre Korridor aus dem bereits besetzten Stadtzentrum zustande kam.

Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenfoto zeigt einen Überblick über das Gelände des Metallurgiekombinats „Asowstal“, wo sich die letzten ukrainischen Kämpfer in Mariupol verschanzt haben
Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenfoto zeigt einen Überblick über das Gelände des Metallurgiekombinats „Asowstal“, wo sich die letzten ukrainischen Kämpfer in Mariupol verschanzt haben Foto: Uncredited/Maxar Technologies/dp

Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter seine Kontrolle bringen. Frühere Ultimaten an die Verteidiger ließen diese verstreichen. Dem österreichischen Militärexperten Markus Reisner zufolge ist der Kampf um Mariupol vorbei. Bereits vor zwei Wochen hätten die Russen begonnen, ihr schweres Gerät von Mariupol abzuziehen und in den Norden zu verlegen. In Mariupol seien, so Reisner zum Tageblatt (hier geht es zum ganzen Interview), jetzt Tschetschenen unterwegs, die im Häuserkampf mit Unterstützung der russischen Luftwaffe die letzten ukrainischen Soldaten niederkämpfen. „Die räuchern die Menschen dort, entschuldigen Sie die Formulierung, einfach aus“, sagt Reisner. Irgendwann gehe den Ukrainern die Munition aus. Das sehe man zurzeit bei den Angehörigen des Asow-Bataillons und der ukrainischen Marineinfanterie in Mariupol, die sich zu Hunderten ergeben, wie die russischen Propaganda-Videos zeigen. Die Einnahme von Mariupol, sagt Reisner, werden die Russen „als großen Sieg verkaufen“.