AfghanistanDie letzten Stunden des Westens am Flughafen Kabul werden zum Rennen gegen die Zeit

Afghanistan / Die letzten Stunden des Westens am Flughafen Kabul werden zum Rennen gegen die Zeit
US-Luftwaffenangehörige führen afghanische Flüchtlinge am Kabuler Flughafen zu ihrem Evakuierungsflug Foto: dpa/Senior Airman Taylor Crul/U.S. Air Force via AP

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Die Zeit drängt, aber eine Lösung ist nicht in Sicht. Die Europäer werden ihre Luftbrücken nach Afghanistan voraussichtlich noch vor dem Wochenende beenden. Nur wenig länger bleiben die Amerikaner. Zurück bleiben hingegen viele Afghanen, die ihr Land aus Angst um ihr Leben verlassen wollen – und die Taliban, von denen niemand weiß, wie sie das Land regieren werden.

Die Rettung schutzbedürftiger Menschen aus Afghanistan wird zunehmend zum Rennen gegen die Zeit: Angesichts des vollständigen US-Truppenabzugs zum 31. August könnte die Luftbrücke mehrerer EU-Staaten schon am Freitag eingestellt werden. Die Taliban sagten derweil nach Angaben aus Deutschland zu, auch nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen weiter Afghanen mit kommerziellen Flügen aus dem Land ausreisen zu lassen, sofern diese über „gültige Dokumente“ verfügten.

Viele Afghanen trauen den Worten der Radikalislamisten aber nicht und fürchten, das Land nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen nicht mehr verlassen zu können. Am Mittwoch warteten am Kabuler Flughafen weiterhin tausende Menschen auf eine Mitfluggelegenheit. Am Dienstag noch hatten die Taliban angekündigt, keine Afghanen mehr zum Flughafen durchzulassen.

Niemand will mehr Sicherheit garantieren 

Ebenfalls am Dienstag hatte US-Präsident Joe Biden die Hoffnungen einiger Europäer, die USA könnten über den 31. August hinaus für Sicherheit am Flughafen von Kabul sorgen, im Keim erstickt. In einer Presseansprache nach dem G7-Videogipfel hatte Biden noch einmal sein Festhalten am Abschluss des Truppenabzugs bis Dienstag kommender Woche bekräftigt: „Je eher, desto besser. Jeder weitere Tag im Einsatz bringt zusätzliches Risiko für unsere Soldaten.“

Bislang brachten das US-Militär und alliierte Truppen nach US-Angaben mehr als 82.300 Menschen aus Kabul in Sicherheit. Sieben EU-Staaten, darunter auch Luxemburg, flogen nach Angaben des Luxemburger Vizepremiers und Verteidigungsministers François Bausch vom Mittwoch bislang rund 10.000 Menschen aus dem Land.

Dass die Situation in Kabul immer gefährlicher wird und der Zeitdruck stündlich steigt, belegt auch der Einsatz der Mittel unter anderem der deutschen Bundeswehr. In der Nacht zu Mittwoch brachte diese mit einem US-Hubschrauber 21 deutsche Staatsbürger zum Kabuler Flughafen. Bundeswehr-Soldaten hätten die Hilfesuchenden an einem Sammelpunkt in der afghanischen Hauptstadt abgeholt und sicher zum Airport gebracht, schrieb am Mittwoch die Deutsche Presse-Agentur DPA.

Die deutsche Botschaft in Kabul wiederum hat am Mittwoch vor Schießereien und Terroranschlägen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt gewarnt. „Es kommt sehr häufig zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen an den Gates. Dazu kommen aktuelle Terrorwarnungen“, heißt es in einem Schreiben an deutsche Staatsbürger, aus dem die DPA am Mittwoch zitierte. Der Zugang zum Flughafen sei kaum noch möglich.

Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) wiederum betonte, dass trotz des US-Abzugsdatums am 31. August alles versucht werde, „bis wirklich zur letzten Sekunde und mit dem letzten Flieger auch zu evakuierende Personen mitzunehmen“. Diese letzte Sekunde könnte allerdings vor dem kommenden Dienstag abgelaufen sein. Die Sorge über die verschärfte Sicherheitslage und die Angst vor terroristischen Anschlägen durch den sogenannten Islamischen Staat, der auch den Taliban gegenüber feindlich gesinnt ist, täglich zunimmt, ist aus allen europäischen Hauptstädten zu vernehmen.

Zudem wird der Einsatz am Flughafen Kabul schon Tage vorher heruntergefahren werden müssen, damit die USA ihre Truppen, hunderte US-Beamte sowie afghanische Helfer und Material wie geplant bis spätestens kommenden Dienstag abziehen können – mit entsprechenden Folgen für den Flugbetrieb und Startgenehmigungen für die Maschinen anderer Länder.

Am Mittwoch wurde auch bekannt, dass die Türkei ihre Soldaten bereits aus Afghanistan abzieht. Der Rückzug der türkischen Streitkräfte habe begonnen, teilte das Verteidigungsministerium in Ankara mit. Die Soldaten kehrten „mit Stolz“ in ihre Heimat zurück.

Es fängt an, sogar extrem kompliziert zu werden, überhaupt noch Familien aus Kabul herauszubekommen

Jean Asselborn, Außenminister Luxemburgs

Nach Bidens Unwillen, wenigstens ein paar US-Streitkräfte über den 31. August hinaus am Flughafen von Kabul zu behalten, ist das ein weiterer Rückschlag für die Europäer vor Ort. Mit dem Abzug dürfte auch die Option vom Tisch sein, dass die Türkei den internationalen Flughafen in Kabul über das Ende des NATO-Einsatzes hinaus sichert. Darüber waren Gespräche geführt worden. Bisher wurde der Flughafen in Kabul unter anderem von türkischen Soldaten im Rahmen des NATO-Einsatzes in Afghanistan gesichert, teils wurde auch der Service für den Flugbetrieb von der Türkei bereitgestellt.

Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge hatten auch die Taliban die Türkei nach deren Angaben um technische Unterstützung beim Betrieb des Flughafens nach dem Abzug ausländischer Truppen gebeten, jedoch darauf bestanden, dass auch die Regierung in Ankara bis zum Ende der Frist am 31. August ihr Militär komplett abziehe. Es blieb vorerst unklar, ob die Türkei dem Ersuchen der Taliban stattgeben wird, wenn ihre Truppen nicht zur Gewährleistung der Sicherheit vor Ort bleiben können.

Die Europäer werden vor den Amerikanern weg sein

Alle Informationen zusammengenommen, sah es Stand Mittwochabend danach aus, dass die Evakuierungsflüge nach Europa bereits an oder gar vor diesem Wochenende beendet würden. Dem Luxemburger Verteidigungsminister François Bausch zufolge werden die beiden in die pakistanische Hauptstadt Islamabad entsandten Luxemburger Koordinierungshelfer am Donnerstag oder Freitag mit dem Ende des belgischen Einsatzes zurück nach Europa fliegen.

Auch Frankreich hat bereits angekündigt, seine Flüge noch vor dem Wochenende abschließen zu wollen. Man werde die Luftbrücke am Donnerstag beenden, falls die USA sich wie angekündigt am 31. August aus dem Land zurückzögen, sagte Nicolas Roche, Büroleiter von Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian, am Dienstag französischen Medien. Ebenfalls am Dienstag hatte die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles gewarnt, wegen der „wirklich dramatischen“ Lage vor Ort werde Spanien nicht alle afghanischen Ortskräfte in Sicherheit bringen können. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bestätigte diese Sicht am Mittwoch. Es fange an, sagte Asselborn, „sogar extrem kompliziert zu werden, überhaupt noch Familien aus Kabul herauszubekommen“. (Mit Material aus den Agenturen)

Russland und China verstärken Zusammenarbeit

Der russische Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping wollen angesichts der instabilen Lage in Afghanistan ihre Zusammenarbeit gegen die terroristische Bedrohung und den Drogenhandel verstärken. „Es ist wichtig, den Frieden im Land wiederherzustellen und zu verhindern, dass die Instabilität auf die Nachbarregionen übergreift“, erklärte der Kreml am Mittwoch nach einem Telefonat der beiden Staatschefs.
Die beiden Präsidenten wollen dabei nach Angaben des Kreml die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in der Russland, China, Indien, Pakistan und zentralasiatische Anrainerstaaten zusammengeschlossen sind, sehr stark einbeziehen. Für kommenden Monat ist ein Gipfeltreffen der Organisation in Tadschikistan geplant.
Russland hatte bisher eine eher aufgeschlossene Haltung den Taliban gegenüber eingenommen und zu einem „nationalen Dialog“ in Afghanistan aufgerufen. Moskau und Peking eint die Sorge um die Sicherheit der ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens. Insbesondere Moskau befürchtet dabei einen großen Andrang von afghanischen Flüchtlingen. Putin warnte jüngst, unter diesen könnten auch islamistische Kämpfer sein. Auch die mögliche Ausweitung des Heroinhandels unter den Taliban bereitet Moskau Sorge. (AFP)