Fast 2.000 Kilometer liegen zwischen Lampedusa und der rue de la Loi. Doch thematisch hängen die italienische Insel im Mittelmeer und das Ratsgebäude in Brüssel an diesem Donnerstag ganz eng zusammen. In den 24 Stunden vor Beginn des Treffens der Innenminister in Europas Hauptstadt sind auf Lampedusa wieder mehr als 1.300 Flüchtlinge angekommen. Sie alle hatten sich im 138 Kilometer entfernten Tunesien auf den gefährlichen Weg gemacht, obwohl vor der Küste Kalabriens in der Vorwoche über 70 Menschen ertranken. „Wir brauchen Ordnung und Steuerung“, mahnt Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser am Nachmittag nach den ersten Runden der Zusammenkunft an. Sie kleidet ihre Mahnung in höfliche Worte. Doch zwischen den Sätzen am Morgen und am Nachmittag schimmert Verärgerung durch.
Flüchtlingspolitik regeln vor den Europawahlen
Denn die schwedische Ratspräsidentschaft hat das Paket der gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Faeser hindert das nicht, dazu gleichwohl das Wort zu ergreifen und mehr Tempo anzumahnen. Bis zum Sommer müssten die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position gefunden haben, damit bis zum Jahresende die Verhandlungen mit dem Parlament und der Kommission zu einem Abschluss gebracht werden können. Ziel: Die Flüchtlingspolitik in Europa neu aufgestellt zu haben, bevor es im nächsten Frühjahr in den Europawahlkampf geht.
Doch die Interessensgegensätze sind auch an diesem Donnerstag in Brüssel wieder zu greifen. Italien fährt seit dem Amtsantritt der neofaschistisch-rechtspopulistischen Regierung einen härteren Kurs und hat erkennbar kein Interesse daran, seinen Teil der Verpflichtungen aus dem Dublin-Verfahren zu erfüllen. Die besagen, dass ein Flüchtling sein Asylverfahren dort durchlaufen muss, wo er erstmals europäischen Boden betreten hat. Macht er sich auf den Weg in ein anderes Land, muss das Aufnahmeland ihn wieder zurücknehmen. Das funktioniert in Europa ganz und gar nicht mehr. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn mahnte jedoch an: „So lange Dublin nicht funktioniert, funktioniert auch die Solidarität zwischen den Ländern nicht.“ Und weiter: „Ohne den Pakt werden wir im Bereich der Migration weiter stolpern. Wenn wir es nicht schaffen, Dublin zum Funktionieren zu bringen, gibt es wenig Hoffnung, die Solidaritätsverpflichtungen zu stärken.“
So lange Dublin nicht funktioniert, funktioniert auch die Solidarität zwischen den Ländern nicht
Faeser greift das schreckliche Schiffsunglück selbst auf und kündigt an, Betroffene im Rahmen der Verabredungen zur europäischen Solidarität von Italien zu übernehmen. Sie spricht später von einer Zahl im mittleren zweistelligen Bereich. Wie beeindruckt Italien davon ist an einem Tag, an dem eine vierstellige Zahl allein auf Lampedusa neu angekommen ist? Zugleich liegt auf dem Tisch der Ministerrunde ein Schreiben von acht EU-Staaten, mit dem Deutschland, Frankreich, Österreich und weitere Mitglieder einmal mehr die Einhaltung der Dublin-Regeln anmahnen. Die Kommission solle dem Ministerrat nun regelmäßig berichten, welche Länder gegen die Vereinbarungen verstoßen. Auch die Schweiz, die an diesem Morgen wegen eines vorgeschalteten Treffens der Schengen-Staaten in Brüssel vertreten ist, beteiligt sich am Druck auf Italien.
Das Kalkül vieler Verantwortlicher: Weil so viele EU-Staaten von dieser neuen Flüchtlingsdynamik betroffen sind wie nie zuvor, sollte die Bereitschaft wachsen, sich endlich auf eine faire Verteilung und gemeinsame Verfahren zu verständigen. Doch der Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Migration hatte sich im Februar vor allem in Richtung massiveren Schutzes der Außengrenzen bewegt. Faeser stellt sich nun dagegen, dieses als alleinige Lösung zu empfinden: „Es kann nicht sein, dass wir nur darüber reden, ob die Grenzen rund um Europa hochgezogen werden, sondern es geht darum, ein gemeinsames Asylsystem zu haben, mit einer gerechten Verteilung“, sagt Faeser mehrfach.
Italien: 30 Jahre Haft für Schlepper
Mit drastischen Haftstrafen will Italien künftig gegen Schlepper im Mittelmeer vorgehen. Regierungschefin Giorgia Meloni kündigte am Donnerstag nach einer Sitzung des Ministerrats an, dass Schleusern und Hintermännern künftig Gefängnisstrafen von bis zu 30 Jahren drohen, wenn es bei irregulären Überfahrten zu Unfällen mit Toten kommt. Die rechte Regierung in Rom reagiert damit auf das Bootsunglück vor der Küste Kalabriens, bei dem Ende Februar mindestens 72 Migranten und Flüchtlinge ums Leben kamen. (AFP)
Asselborn wiederum erinnert im Hinblick auf den letzten Europäischen Rat daran, dass es „keinen Konsens“ in der Frage der europäischen Finanzierung der physischen Barrieren an den Außengrenzen der Europäischen Union gegeben habe. „In jedem Fall unterstützt Luxemburg nicht den Bau von Mauern und deren Finanzierung durch die Europäische Union“, sagt Asselborn.
Ylva Johansson, die EU-Innenkommissarin, versucht Optimismus zu verbreiten. Die EU-Verantwortlichen stünden zwar unter Zeitdruck, aber es sei nicht unrealistisch, den Zeitplan einzuhalten. Noch sammeln auch an diesem Donnerstag die Innenminister ihre Kräfte. Wenigstens sagt Schwedens Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard, auch die Präsidentschaft wolle den Durchbruch „bis Juni“. Sicherheitshalber bereiten sich die Spanier jedoch schon einmal vor, die Sache zu forcieren, wenn sie die Präsidentschaft im Juli übernehmen.
De Maart
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