EditorialDie Grippe im System: Verwirrende Solidaritätsbekundungen im Kultursektor

Editorial / Die Grippe im System: Verwirrende Solidaritätsbekundungen im Kultursektor
 Foto: dpa/Harald Tittel

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Ein Teil der Luxemburger Kulturszene tut sich schwer mit seinen Solidaritätsbekundungen für die Ukraine – oder sendet zumindest das, was man auf Englisch mixed signals nennt: Nachdem für den Start von Esch2022 eine Rakete gestartet wurde, setzte das LuxFilmFest aufgrund einer Entscheidung, die von Politikern und nicht etwa von der Künstlerischen Leitung des Festivals getroffen wurde, alle russischen Festivalbeiträge ab – darunter auch den Wettbewerbsbeitrag „Gerda“ von Natalya Kudryaschowa, der scheinbar (da hierzulande niemand den Film sehen durfte, müssen wir außenstehenden Kritikern Glauben schenken) ein äußerst kritisches Bild der russischen Gesellschaft zeichnet.

Klar kann man das rhetorisch so lange zurechtbiegen, bis es passt. Den Launch der Eröffnungsfeier konnte man damit begründen, Raketen haben nicht nur mit Krieg, sondern auch mit pazifistischer Forschung zu tun – und Belval ist nun einmal zum postindustriellen Herz hausgemachter Forschung geworden. Das stimmt natürlich.

Aber bei genau solchen Argumenten erinnere ich mich an eine Szene aus Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“, in der die an Wernher von Braun angelehnte Figur Franz Pökler ihrer Tochter weismacht, die V2-Raketen, an deren Entwicklung sie, die Figur, tüftelt, wären dazu da, um Mondreisen zu ermöglichen. Bedenkt man, dass von Braun in der Nachkriegszeit, nachdem er gelogen hatte, von all den Gräueltaten und Kriegsverbrechen der Nazis nichts gewusst zu haben, von der NASA rekrutiert wurde, ist der (Regen)Bogen zwischen Forschung und Technologie recht schnell geschlagen. Denn genau das ist es, was Pynchons postmodernes Meisterwerk zeigt: dass Technologie nie (oder zumindest selten) gefeit vor ökonomischen und/oder militärischen Hintergedanken ist.

Während der Eröffnung des LuxFilmFest wurde dem Publikum erklärt, man habe dem Appell der Filmakademie folgen wollen. Diese hatte Filmfestivals weltweit mit (u.a.) dem Argument, unter den russischen Filmproduktionen fungierten so einige Propagandabeiträge, gebeten, alle russischen Beiträge zu boykottieren.

Auch hier hinkt die Argumentation: Erstens scheint suggeriert zu werden, dass man das Künstlerische Komitee des Festivals nicht für fähig hält, zwischen Propagandafilmen und kritischen Beiträgen zu unterscheiden. Zweitens gibt es zumindest zwei Aspekte, die unter dem Deckmantel der Solidarität Mechanismen reproduzieren, die eher an autoritäre Regimes als an die Verteidigung demokratischer Werte erinnern: So ist es einerseits im Kulturbetrieb westlicher Demokratien ungewöhnlich, dass sich die Regierung in die Entscheidungen der Künstlerischen Leitung einmischt, andererseits reproduziert dieser Cancel-Culture-Gestus genau die Zensur, die vielen russischen Kulturschaffenden seit Jahren zu schaffen macht.

Nächste Woche läuft Kyrill Serebrennikows „Petrov’s Flu“ an – der erste Film, den der Filmemacher, Opern- und Theaterregisseur drehen durfte, nachdem ein von Putin aufgrund einer erfundenen Geschichte von Unterschlagung öffentlicher Gelder verordneter Hausarrest ihn eine Zeit lang (nicht nur) künstlerisch einschränkte. In der ersten Szene hält eine Straßenbahn an, unschuldige Zivilisten werden gnadenlos massakriert, später nimmt sich ein Schriftsteller das Leben, weil er das zeitgenössische, autoritäre Russland nicht mehr erträgt. Petrov läuft hustend und sturzbesoffen durch diesen Film, die titelgebende Grippe ist keine Allegorie auf die Pandemie, sondern auf ein durch und durch krankes Land. Gerade heute sollte man solch radikale, schonungslose Filme nicht boykottieren: Sie tragen maßgeblich zum (Un)Verständnis dessen, was gerade passiert, bei.