Gastbeitrag / Die Gewalttätigkeit des Wissens

Ein Zusammenhang zwischen Schädelform und psychischen Merkmalen ist wissenschaftlich heute längst widerlegt und ausgeschlossen
Als epistemische Gewalt wird die Gewalt auf der Ebene des Wissens bezeichnet. In postkolonialen Ansätzen bedeutet dies vor allem, dass der Westen mit Beginn der Kolonisierung bestimmt und wertet, was als „Wissen“ anerkannt wird. Neben einer systematischen Zerstörung von Wissen der kolonisierten Gesellschaften in der Zeit des Kolonialismus führt dieses „westliche Wissen“ dazu, dass bis heute noch eine Abwertung von unter anderem indigenem Wissen stattfindet. Daneben resultiert dies in einer indirekten Leugnung der Geschichte(n) der kolonisierten Völker.
Neben den oben angeführten Punkten gibt es noch andere Faktoren, die dazu führen, dass nicht der Begriff „Einfluss“, sondern „Gewalt“ in diesem Kontext benutzt wird. Wenn Claudia Brunner von einem „Effekt der Normalisierung und Rechtfertigung von anderen Gewaltformen direkter und indirekter Art“ spricht, dann verweist sie darauf, dass das Wissen und somit auch die Wissenschaft nie unabhängig war. Aus dem Verständnis von Wissen entwickeln sich Überlegenheitsgefühle, die historische geopolitische Konsequenzen hatten und bis heute haben. Nicht ausschließlich, aber vor allem das westliche Wissen steht in einem direkten Zusammenhang mit anderen Gewaltformen.
Das Beispiel Rassismus
Rassismus ist tief im Alltagswissen verankert. Man nimmt indirekt an, dass manche Menschen aufgrund struktureller Merkmale minderwertig seien. Dabei handelt es sich um Vorurteile, die jeglicher Grundlage entbehren, und somit um eine falsche Annahme, also um „falsches Wissen“. Nichtsdestotrotz ist diese Annahme als Wissen in den Köpfen verankert und beeinflusst und bestimmt die eigenen Handlungen.
Rassismus ist eine Überlegenheitsüberzeugung, die nicht selten in direkt körperliche Gewalt umschlagen kann. Neben der körperlichen Gewalt sind aber vor allem die weitreichenden psychischen Konsequenzen hervorzuheben, die direkt davon Betroffene davontragen. Der Rassismus überträgt sich aber auch auf die Strukturen des Landes. Diese macht sich vor allem dann bemerkbar, wenn man Menschen an den Grenzen Europas ertrinken lässt oder wenn man sie in menschenunwürdigen Lagern „hausen“ lässt. Die Verbindung zwischen einem Überlegenheitsgefühl, Wissen und Gewalt sind hier deutlich zu erkennen.
Tiefgründiger als nur Alltagswissen
Der Rassismus hört aber nicht beim Alltagswissen oder bei der europäischen Außenpolitik auf. Insbesondere im 19. Jahrhundert, also der Hochphase des Kolonialismus, manifestierte sich der Rassismus in der Wissenschaft. Im Bereich der Hirnforschung verband man den Aufbau und die Struktur des Gehirnes mit psychischen Besonderheiten. Neben rassistischen wurden auch sexistische Vorurteile auf die Schädelform bezogen.
Da die Schädel tatsächlich Unterschiede aufweisen, gab es Korrelationen zwischen Vorurteilen und Schädelformen. Den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität machte man offensichtlich nicht, wenn es darum geht, eine diskriminierende Hypothese zu bestätigen. Diese Art der Forschung diente vor allem einem Zweck. Ideologien unter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit zu untermauern und die Unterdrückung von Frauen und Nicht-Weißen zu rechtfertigen.
Grenzen der Wissenschaft
Ein Zusammenhang zwischen Schädelform und psychischen Merkmalen ist wissenschaftlich heute längst widerlegt und ausgeschlossen. Dieses Beispiel zeigt aber, dass die Wissenschaft und somit die Schaffung von Wissen nie isoliert und unabhängig ist. Sie unterliegt oft dem Einfluss der gesellschaftlichen Machtstrukturen. Dabei können Alltagswissen und Wissenschaft direkt zu Gewalt führen. Indem sie Ausbeutung und Unterdrückung und daher Gewalt rechtfertigen.
Aus diesem Grund ist es nicht förderlich, wenn in einem System oder einem bestimmten Feld nur eine bestimmte Gruppe an der Macht ist. Wenn zum Beispiel in der Wissenschaft vor allem Männer oder im Bildungsbereich vor allem „Weiße“ forschen. Dabei muss die Absicht nicht immer eine bewusst diskriminierende sein, sondern sie kann auch durch das Fehlen von anderen Perspektiven entstehen und sich reproduzieren. In einem ungleichen Weltsystem das westliche Wissen als Maßstab der Dinge zu zählen, sollte man also infrage stellen.
* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.
- „Systematesch Betreiung“: Schülern, die neu in Luxemburg sind, sollen mehr Hilfe erhalten - 7. Juni 2023.
- Russlands offizielle Politik radikalisiert sich immer mehr - 7. Juni 2023.
- Delhaize ruft Mini-Spinat-Burger zurück - 7. Juni 2023.
Seltsame Welt in der wir heute leben. Jemand postuliert trocken aber vollkommen korrekt, dass zwei plus zwei gleich vier sind – und alle, deren „kulturelle Eigenart“ oder „gefühlte Realität“ als Resultat eher fünf oder siebzehneinhalb vorschrieben, posieren dann sogleich als Opfer von Gewalt, Verachtung und Kolonialismus. Ginge es nicht mal eine Nummer kleiner?
Ihre Artikel erstaunen mich immer wieder, aber immer wieder das Thema der Kolonisation aus der Schublade kramen scheintot doch übertrieben. Ich unterstelle Ihnen keine Naivität, aber die westliche Welt hat noch immer nicht der Kolonisation, auch wenn unter veränderter Form, nicht abgeschworen. Glauben Sie wirklich die Politik der Sanktionen, der Waffenverkäufe, der Sicherung von Absatzmärkten, von Bodenschätzen, das Gegeneinanderausspielen von Völkern, Religion, Kulturgruppen sei anderer Machart der Denkweise der Kolonialisten. Es würde mich freuen, als längst abgedroschene Themen immer neu aufzubauschen, eines der wirklich gefährlichen Macharten westlicher Kolonisation bis unsere heutige Zeit hinein, die Aufteilung des Nahen Osten durch die Kolonialmächte, deren kulturelle , gesellschaftlichen, religiösen Konsequenzen für den Orient zu beleuchten .