„Die Erfindung des Luxemburgisch-Seins ist ohne Schule gar nicht denkbar“

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Schiefertafeln, reine Jungenschulen und ein Lehrer, der hauptberuflich eigentlich etwas ganz anderes macht. So etwas können sich Schüler heute kaum mehr vorstellen. Das Bildungssystem reflektiert die Entwicklung der Gesellschaft. Doch wie ist Luxemburgs Schulsystem zu dem geworden, was es heute ist? Dieser Frage gehen der Forscher Thomas Lenz von der Uni Luxemburg und seine Kollegen in ihrem neuen Buch „Schule der Nation“ nach.

Tageblatt: Ihr Buch erforscht das Luxemburger Schulsystem. Was kann der Leser erwarten?
Thomas Lenz: Es ist eine Sammlung von ganz unterschiedlichen Forschungsarbeiten von Wissenschaftlern, die an der Universität Luxemburg arbeiten oder gearbeitet haben. Die Texte sind aus zwei Forschungsprojekten hervorgegangen, die sich mit der Geschichte der Schulbildung beschäftigt haben. Wir haben in unserem Buch den Faktor Luxemburg hervorgehoben.

Welche Themen werden angesprochen?
Es geht von der Säkularisierung des Bildungssystems über den Multilingualismus bis zur Erziehung der Schüler zum „Staatsbürger“. Zwei Aspekte ziehen sich durch alle Texte: der enorme internationale Einfluss, dem das Luxemburger Schulsystem von Anfang an ausgesetzt gewesen ist. Und dass die Schule immer eine große Rolle in der Identität der Luxemburger gespielt hat. Überspitzt formuliert: Die Erfindung des Luxemburgisch-Seins ist ohne die Schule gar nicht denkbar.

Wie macht sich der internationale Einfluss bemerkbar?
In Luxemburg wurden nie einfach Patentrezepte aus den Nachbarländern übernommen und dem eigenen System übergestülpt – auch als das Schulwesen noch in den Kinderschuhen steckte. Außerdem gab es entweder aus der Verwaltung oder aus der Lehrerschaft immer wieder eigene Ideen. In Luxemburg wird versucht, die vielen verschiedenen Einflüsse von außen zu etwas Eigenständigem und Eigenem zu verbinden.

Haben Schüler sich schon immer so am Schulsystem gerieben, wie sie es heute tun?
Wahrscheinlich, ja. Aber die Schülerperspektive spielt historisch kaum eine Rolle. In den Anfangstagen finden sich aber Elternbriefe, in denen sich die Eltern gegen den großen Zugriff der Schule wehren. Der Tenor: Die Kinder sollen auf dem Hof helfen – und nicht zur Schule gehen.

Thomas Lenz ist Soziologe an der Uni Luxemburg. Er gilt als Experte für luxemburgische Bildungsgeschichte und ist Mitverfasser des nationalen Bildungsberichts, der kürzlich veröffentlicht wurde.

Luxemburg und sein Schulsystem sind heute geprägt von der Mehrsprachigkeit. Wie hat sich diese entwickelt?
Dabei kann man die Bedeutung der Schule kaum überschätzen. Als der primär französischsprachige Teil Luxemburgs an Belgien abgetreten wurde, war das Großherzogtum de facto ein deutsch-luxemburgisch-sprachiges Land. Gleichzeitig wurde aber mit dem Schulgesetz die Entscheidung getroffen, dass sich Luxemburg eine zweisprachige Identität gibt.

War die Mehrsprachigkeit früher ein größeres Problem als heute?
Es war eine extreme Herausforderung. Luxemburg hatte kaum Lehrer, die Französisch unterrichten konnten. Zudem wurden Deutsch und Französisch mit unterschiedlichen Schriften geschrieben. Die Schüler mussten also auch noch zwei Arten zu schreiben lernen. Die Diskussion zieht sich bis heute. Mehrsprachigkeit ist zum einen eine großartige Ressource für Luxemburg, zum anderen aber eine wahnsinnige Herausforderung für das Schulsystem.

Macht das Luxemburg im europäischen Vergleich einzigartig?
Einzigartig sicherlich dahingehend, dass in Luxemburg von Anfang an der Anspruch bestand, die beiden Sprachen – Deutsch und Französisch – auf Muttersprachenniveau zu unterrichten. Das findet man in keinem anderen Land – weder historisch noch in der Gegenwart.

Was war die Rolle des Luxemburgischen im Laufe der Bildungsgeschichte?
Das Luxemburgische spielt von Anfang an eine Rolle als Umgangs- und Unterrichtssprache. Aber es gibt kein Gesetz, das das festschreibt. Was aber relativ schnell eingeführt wird, ist eine Art Heimatkunde-Unterricht. Dort wird auch die luxemburgische Sprache und vor allem die luxemburgische Literatur unterrichtet.

Wie groß war der Einfluss der Lehrer auf das Bildungssystem?
In Luxemburg dauerte es länger, bis sich ein eigener Lehrer-Berufsstand herausbildete. Früher wurde viel von der Verwaltung und den Ministerien vorgegeben. Erst als eine kritische Masse an Lehrern vorhanden war, bildete sich über Lehrerzeitungen ein eigenes Selbstbewusstsein des Berufsstands heraus. Allerdings fingen die Lehrer früh und schnell an, sich auch gewerkschaftlich zu organisieren, und wurden damit zu einem entscheidenden Einflussfaktor – auch schulpolitisch.

DAS BUCH

„Die Schule der Nation – Bildungsgeschichte und Identität in Luxemburg“ wurde herausgegeben von Matias Gardin und Thomas Lenz im Beltz-Verlag. Es hat 258 Seiten und kostet 39,95 Euro (E-Book:36,99 Euro).

Eine Leseprobe als PDF gibt es hier.

Das Thema Migration ist prägend für die Luxemburger Geschichte. Auch in Sachen Bildung?
Unsere Untersuchungen zur Migration enden in den 1970er-Jahren. Und da nahm das Thema erst an Fahrt auf. Die Anfangsdiskussionen können wir aber nachvollziehen. Zum Beispiel in der Diskussion über die Gesamtschule. Eine der Ideen hinter dieser war, dass sie die Gleichheit fördert und ausländische Kinder dadurch besser ins Schulsystem integrieren werden können. Natürlich gewann die Debatte seitdem rasant an Bedeutung. Wie man Kinder mit Migrationshintergrund ins anspruchsvolle Luxemburger Schulsystem – vor allem in Bezug auf die vielen Sprachen – integriert, ist sicherlich eine der wichtigsten Zukunftsfragen.

Im Bildungsbericht steht, dass die Chancen der Kinder oft von ihrer sozialen Herkunft abhängen. Spielte das auch schon früher im Luxemburger Bildungssystem eine wichtige Rolle?
Der Befund ist in der Tat nichts Neues. Aber etwas hat sich geändert. Früher konnte man etwas überspitzt sagen: Das Kind, das am meisten Gefahr läuft, schulisch abgehangen zu werden, ist die katholische Bauerntochter vom Land. Jetzt ist es im Prinzip der Arbeitersohn mit Migrationshintergrund aus der Stadt. Da sieht man, welche Veränderungen im Schulsystem passiert sind.