EditorialDie Büchse des Corona: Wieso wir uns vor den Dystopien von morgen hüten müssen

Editorial / Die Büchse des Corona: Wieso wir uns vor den Dystopien von morgen hüten müssen

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

April 2020. Grundprinzipien des demokratischen Systems sind wie weggefegt, drastische Freiheitseinschränkungen werden bedingungslos angenommen. Apps sollen Infizierte via Mobilfunkdaten ausfindig machen. Zeitungsartikel stellen transnationale Todeszahlenvergleiche an, als wäre man in einem morbiden Wettbüro. Grillende Nachbarn werden zu Feindbildern – die Polizei erscheint, noch bevor das Steak überhaupt durch ist. Nationale Grenzen sind quasi über Nacht wieder aufgerichtet worden. Europäische Leader greifen auf Kriegsrhetorik zurück. Was noch Ende 2019 der mögliche Pitch einer Netflix-Sci-Fi-Dystopie war, ist innerhalb von 20 Tagen zur bitteren Realität geworden.

Erschreckend ist vor allem, dass jede Regierungsmaßnahme quasi ohne Wenn und Aber akzeptiert wird. Der kritische Geist ist einem Vorsichtsimperativ gewichen – weil jeder die Verantwortung scheut, falls sich später herausstellen sollte, dass man sich geirrt hat. Der französische Philosoph Gilles Lipovetsky gab bereits 1983 zu bedenken, dass der säkularisierte westliche Bürger oft nicht weiß, was er mit seiner ganzen Freiheit anfangen soll. Heute fällt dem Individuum nicht mehr viel ein – dankend werden die autoritären Lebensvorgaben der Regierung angenommen.

Dabei gilt es gerade jetzt, die Ungereimtheiten in der Rhetorik der Regierungen zu analysieren. An der Kluft zwischen folgerichtigen Vorsichtsmaßnahmen und sinnlosen Kontrollmechanismen des Staatsapparates lässt sich nämlich nicht nur unsere momentane Unsicherheit ablesen – hier erkennt man auch die Umrisse der Welt, die wir uns für morgen bauen werden.

Erste Aporie: die Kriegsmetapher. Das Virus ist kein Krieger. Das Virus ist eine biologische Struktur. Es sieht in uns keinen Feind, sondern einen Lebensraum. Das Virus ist eine Rockband, die sich in einem Hotel einquartiert und nach dem Konzert das Zimmer zerlegt. In den meisten Fällen wird das Zimmer renoviert, der Bandaufenthalt zur Anekdote. In seltenen Fällen überlebt das Unternehmen die Übernachtung nicht – weil das Hotel baufällig war, die Band in der Nacht gleich mehrere Zimmer verwüstet hat oder die Versicherung nicht zahlt. In dieser Metapher sind wir keine Krieger, sondern Hotelleiter.

Zweite Aporie: die Ausgangssperre. Selbst Immunologen sind unsicher, ob wir damit die Krise nicht einfach nur hinauszögern. Die psychische und körperliche Gesundheit des Einzelnen – die Fälle von häuslicher Gewalt sind in den letzten Wochen drastisch gestiegen, in Frankreich wurde ein sechsjähriger Junge während des Lockdowns von seinem Vater zu Tode geprügelt –, unsere Wirtschaft, die gesamte demokratische Kultur werden schonungslos aufs Spiel gesetzt, während Immunologen auf einen Impfstoff oder den Sommer hoffen. Wäre dies ein Poker-Spiel, würde man nicht von politischer Größe, sondern von Verzweiflung reden – zumal in einer sozialdemokratisch-grün-liberalen Regierung individuelle Bürgerrechte unantastbar sein müssten.

Dritte Aporie: das Schließen der Grenzen. Wenn ich eh nirgendwo hingehen kann, weil es eine einheitliche EU-Direktive ist, dass man zu Hause bleiben soll, ist es redundant und folglich unnötig, die Grenzen zu schließen. Als Zeichen des Zusammenhalts hätte man, unter dem Vorbehalt, dass die Ausgangssperren weiterhin in ganz Europa gelten, zugeben müssen, dass es eine Fehlentscheidung war, die Grenzen zu schließen – sei es nur, um das Vertrauen in die EU symbolisch zu bekunden und späteren nationalistischen Rechtsrucks entgegenzuwirken.

Klar: In erster Linie gilt es jetzt, das Virus zu bekämpfen. Aber dieses Virus läutet das Ende der Welt, wie wir sie kannten, ein: Mit der Entwicklung von Corona-Apps wird erstmals das Modell einer digitalen Überwachungsgesellschaft, deren Fundamente in den letzten Jahrzehnten gelegt wurden, an uns ausgetestet. Wie die Post-Corona-Welt aussehen wird, können wir aktiv mitentscheiden – solange wir kritisch gegenüber den staatlich verordneten Vorsichtsmaßnahmen bleiben.

J.C.Kemp
12. April 2020 - 13.05

Wenn der Staat, respektive die Regierung dem Untertanen, manchmal auch Bürger genannt, klar macht, dass er sich um seine Gesundheit oder Sicherheit sorgt und deshalb seine Rechte einschränken muss, ist der Betroffene meist leicht davon zu überzeugen. In einer zukünftigen Krise geht es dann leichter. Statistiken sind recht gute Hilfsmittel.

J.Scholer
7. April 2020 - 15.45

@Calderoni: Sie wundern sich die EU „ d‘Baach erof geet“. Wundern brauchen Sie sich nicht, denn dem aufmerksamen Beobachter der Politik wird nicht entgangen sein , welch Kapriolen so manche europäische Regierung veranstaltet, wo Eigennutz vor Allgemeinwohl steht, solidarisches Handeln zum Fremdwort wurde. Speziell die Machthaber aus Berlin haben uns bewiesen, wessen Geistes Kind der europäische Gedanke ist. Letzte Kapriole dieser Möchtegern-Europäer aus Berlin, scheint das gestrige Statement , man könne die Grenzen von NRW zu den Niederlande, Belgien nicht schliessen, keine Kontrollen einführen, in dieser Euregio lebten die Menschen über die Grenzen hinweg.(Tagesschau Liveblog gestern 15Uhr27) Ein Schlag ins Gesicht für Luxemburg, für Frankreich, ein gefundenes Fressen für jeden Europaskeptiker, das nationalistisch , populistisch denkende Gesindel.Das Schengen Abkommen ist ein Teil des Europäischen Konstruktes und für mich nicht Definition eines Europas, allerdings ich selber wünsche mir ein soziales, humanistisch denkende, solidarische Europa , ein Europa der Menschen aller Ethnien , Kulturen . Was das europäische Handeln angeht , wurde in letzter Zeit oft in den Titeln der Presse der Ausdruck verwendet „ in der Corona-Krise bestimmt die Wissenschaft die Politik“, falsche Annahme, nicht die Wissenschaft bestimmt, die Wirtschaft bestimmt wie eh und je, nicht der Mensch ist von Interesse, alleine Verlust und Rendite zählen in deren Köpfen und um die Verluste für das Kapital zu minimieren drängt man auf ein vorzeitiges Aufheben der Einschränkungen, egal welch Konsequenzen daraus resultieren.

J-Marc Calderoni
7. April 2020 - 14.34

An Zäite vu Kriisen, daucht ëmmer nees d‘Gespenst vun der Diktatur op. Do brauch een nëtt Orson Welles oder Bert Brecht ze heeschen, fir dat ze erkennen. Eng Portioun gesonde Mënscheverstand a politesch Zourechnungsfähegkeet kinnte, verbonne mat enger Grimmel Zivilcourage, Gestapo-Methoden verhënneren. Leider awer schéngt ët wéi wann d‘Gesellschaft onfäheg wir, aus der Geschicht ze léiren. Arbiträr Décisiounen, Denunziatioun a willkürlech Polizeikontrollen - dat alles as nach keng 80 Joër hir. Wat mer elo brauchen, si besonnen Politiker à la Lenert oder Bofferding an eng EU-Kommissioun wou déi beschte Kräften dra sëtzen. Leider awer hu mer ët och hei zu Lëtzebuerg mat total iwwerfuërderten Möchtegern-Politiker à la Bausch ze din, déi national komplett versoën an dofir enges Dags op Bréissel entsuergt gin. Grad esou wéi eis ,,gutt’’ däitsch Noper ët mat der Madame von der Leyen gemaach hun. An da wonnere mer eis, dass nëtt nëmmen d’EU d’Baach a geet ...

HeWhoCannotBeNamed
7. April 2020 - 12.29

Interessanter, aber einseitiger Kommentar - hier wird ausgeklammert, dass die autoritären Züge des Staates von einer Gesellschaft nur insofern geduldet (und gewünscht) werden, um das Allgemeinwohl zu schützen - in einer Ausnahmesituation. Dem gegenüber stehen die Rechte des Individuums, sicher. Aber das Ideal der freien Entwicklung des Individuums ist in der Menschengeschichte relativ rezent und auch keine wertneutrale. Insofern darf man sich (vage) an Hobbes erinnert fühlen : der Einzelne tritt einen Teil seiner Rechte ab um sich selbst und andere zu schützen (auch wenn es hier nicht das Wesen des Menschen zu bändigen gilt). Sind es nicht eben die stur ausgelebten Ideale des Corona-party-feiernden "ich-ich-ichs", die das Gemeinschaftsgefühl vermissen lassen und eben gerade die Verbreitung anfeuern? Vielleicht liegt die Dystopie doch nur im Auge des Betrachters...

DanV
7. April 2020 - 10.42

Ja, wir müssen wachsam sein, damit unsere "eingesperrten" Rechte nach der Krise auch wieder frei gelassen werden. Es ist gut, uns alle daran zu erinnern. Danke und weiter so. Aber nicht nur die Gesetze, sondern auch die Menschen verändern sich. Denunziation von Mitbürgern ist für manche plötzlich Bürgerpflicht. Mir wird sehr sehr kalt, wenn ich das lese.

Christian Bilawski
7. April 2020 - 10.14

Vielen Dank für diesen Artikel - die Gedanken müssen weiterhin frei bleiben! Angst ist kein guter Ratgeber für Lösungen mit Weitblick, vor allem nivht in Krisenzeiten.

de maulkuerf
7. April 2020 - 8.23

"wie ein kritischer SCHREI" wann een dat viirleefecht Resultat geséit vun der Emfroo vun haut, op ee séi Noper oder Matmensch soll bei der Police melden (uschäissen) Êmfroo vun Haut um 08:10 den 07.04.2020 "Ich finde es nur richtig, die Mitbürger bei der Polizei anzuzeigen, die gegen die Ausgangsbeschränkungen verstoßen. (89.08%)" dat Resultat ass einfach erschreckend - ech fannen mol keng Wieder fiir dorop ze äntwerten Duerch eise "Woulstand", deen et färdeg bruecht huet, de Mênsch nach just als Konsum- an Fréizäitjubel Individuum ze forméieren, wonnert et mech net dat do keng Reaktioun méi kênnt, Opposition zu Eppes maachen, ass aus de Leit hiire Käpp mat der Zeit verschwonnen. Et gêt schon ze bedenken wat am Moment geschid……. de maulkuerf

J.Scholer
7. April 2020 - 8.01

In düsteren Zeiten kommt Freude auf, liest man solch Presseartikel und man erkennt , es gibt noch Zeitgenossen, die Gehirn und Verstand in der Konsum- und Spasswelt nicht verloren haben.Menschen ,die sich vieler aus dieser Krise resultierenden Konsequenzen , politischen Gefahren bewusst sind. Das Virus , wie bei Bohlens Klamaukshow zum Superstar avanciert, öffnet die Tore für Angriffe auf Freiheit, Demokratie, Soziales, Humanismus ,Ethik .Aber naive Bürger , vom Konsumrausch verseucht, glaubt noch immer, am morgigen Tag wird wieder Freude und Eierkuchen sein.Wie schrieb Kästner in seinem Gedichte :“Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönen den leeren Platz überm Sofa ein.Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen, gescheit und trotzdem tapfer zu sein.(Und wo bleibt das Positive,Herr Kästner?)