StandpunktDie Beerdigung des Laissez-faire-Zombies: Weg vom oberflächlichen Staat-versus-Markt-Narrativ

Standpunkt / Die Beerdigung des Laissez-faire-Zombies: Weg vom oberflächlichen Staat-versus-Markt-Narrativ
 Foto: dpa/Christian Charisius

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Das Schlagwort von der „Rückkehr des Staates“ ist heute offenbar in aller Munde. Angesichts der globalen Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie und den Klimawandel, so das Argument, sollte die Ressourcenallokation nicht den Märkten, sondern dem Staat obliegen. Die von Ronald Reagan und Margaret Thatcher angestoßene neoliberale Revolution hat offenbar ihr Ende gefunden. Staatliche Eingriffe im Stile des New Deal sind wieder in.

ZUM AUTOR

* Luigi Zingales ist Professor für Finanzwissenschaft an der University of Chicago und Co-Moderator des Podcasts „Capitalisn’t“.

Diese Entgegensetzung von Staat und Markt ist jedoch irreführend und stellt ein großes Hindernis für das Verständnis und die Bewältigung der heutigen politischen Herausforderungen dar. Ihren Ursprung hat diese Dichotomie im 19. Jahrhundert, als obskure, im Zeitalter des Feudalismus begründete staatliche Vorschriften das Haupthindernis für die Schaffung kompetitiver Märkte bildeten. Der Schlachtruf in diesem durchaus legitimen Kampf wurde später zum Prinzip des Laissez-faire erhoben, wobei geflissentlich ignoriert wurde, dass es sich bei Märkten auch um Institutionen handelt, deren effizientes Funktionieren von Regeln abhängt. Die Frage lautet also nicht, ob es Regeln geben sollte, sondern vielmehr, wer diese festlegen sollte und in wessen Interesse.

Im 21. Jahrhundert ist diese Gegensätzlichkeit von Staat und Markt obsolet. Staatliche Interventionen können Märkte fördern. Die in den meisten Industrieländern mittlerweile eingeführte Rufnummernmitnahme im Bereich Mobiltelefonie hat den Wettbewerb zwischen den Mobilfunkanbietern angekurbelt. Die Sicherheitsbestimmungen der US-Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration sorgen dafür, dass Fluggäste Vertrauen in neue Fluggesellschaften fassen, wodurch neue Marktteilnehmer und der Wettbewerb in diesem Sektor gefördert werden. Und mit der Operation Warp Speed hat man nicht nur die Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs beschleunigt, sondern auch den Wettbewerb zwischen den Impfstoffherstellern befeuert.

Doch während manche Regeln den kompetitiven Markt stärken, wird er von vielen anderen Vorschriften behindert. In einigen Fällen wie dem eingeschränkten Weiterverkauf von N95-Gesichtsmasken zu Beginn der Pandemie sind staatliche Eingriffe auf Grundlage höherer Interessen gerechtfertigt. In vielen anderen Fällen, etwa bei der Begrenzung der Zahl der Studienplätze an medizinischen Fakultäten, spiegelt die staatliche Einmischung einfach den Einfluss von Interessengruppen wider, die versuchen, den Markt zu verzerren.

Die stärkste Trennlinie verläuft also nicht zwischen Staat und Märkten, sondern zwischen wettbewerbsfördernden und wettbewerbshemmenden Regeln. Und im Bereich der wettbewerbsbeschränkenden Regeln besteht der wichtigste Unterschied zwischen Regeln, die durch ein höheres Interesse gerechtfertigt sind, und jenen, auf die das nicht zutrifft.

Sozialhilfeprogramme

Im 19. Jahrhundert wurde das Laissez-faire-Prinzip überdies missbraucht, um Wohlfahrtsprogramme im Namen eines fehlgeleiteten Sozialdarwinismus zu blockieren. Doch Sozialhilfeprogramme schaden der Funktionstüchtigkeit der Märkte nicht. Tatsächlich könnten derartige Programme sogar die Widerstandskraft der Märkte stärken, wie Raghuram G. Rajan und ich vor fast zwanzig Jahren in unserem Buch „Saving Capitalism from the Capitalists“ feststellten. Die Entscheidung ist also nicht zwischen Staat und Markt zu fällen, sondern zwischen Wohlfahrtsprogrammen, die den Markt fördern, und Programmen, die ihn verzerren.

Während des Kampfes um die Befreiung der Märkte von feudalen Regeln im 19. Jahrhundert war es einfach, Märkte mit Freiheit und den Staat mit Unterdrückung zu assoziieren. Die Gleichsetzung von staatlich gelenkter Wirtschaftsplanung mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung im 20. Jahrhundert hat diese Assoziation noch verstärkt.

Heute allerdings besteht diese Verknüpfung nicht mehr unbedingt. In einer Welt der digitalen Monopole ermöglicht Laissez-faire eine unverhältnismäßige Konzentration der Macht in wenigen Händen. Derartiges fördert nicht die individuelle Freiheit, sondern schürt Unterdrückung. Ist die Möglichkeit eines Unternehmens, Nachrichten für drei Milliarden Menschen zu erstellen, ein Indikator für Freiheit? Oder umgekehrt: Ist staatliche Regulierung, die unsere Privatsphäre vor ständiger Überwachung schützt, ein Instrument der Repression?

Eine weitere wesentliche Polarität besteht daher nicht zwischen staatlicher Unterdrückung und Marktfreiheit, sondern zwischen Unterdrückung als Ergebnis der Existenz von (privaten oder staatlich kontrollierten) Monopolen und der Wahlfreiheit, die kompetitive Märkte bieten.

Postfeudales Relikt

Heute geht es nicht mehr um die Frage mehr Staat oder mehr Markt. Vielmehr geht es zum Teil darum, sicherzustellen, dass die Fähigkeit des Staates, Aufgaben zu übernehmen, für deren Erledigung er am besten geeignet ist, nicht durch Marktmacht beeinträchtigt wird. So verfügt beispielsweise der Staat über einen komparativen Vorteil bei der Bewältigung negativer Externalitäten wie Luft- und Wasserverschmutzung. Allerdings wird die Fähigkeit des Staates, derartigen externen Effekten mit Ad-hoc-Steuern oder Regulierung entgegenzutreten, durch die Lobbyarbeit der Unternehmen erheblich beeinträchtigt.

Nicht minder wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass der Staat den Markt nicht behindert, das zu tun, was er am besten kann. So bewerkstelligen Märkte in aller Regel die Kapitalallokation besser als staatliche Bürokratien. Dennoch legen die Regierungen der Bundesstaaten in den USA noch immer Regeln fest, wer Finanzierungen bekommen soll. Arkansas beispielsweise verlangt von seinen öffentlichen Pensionsfonds, zwischen 5 und l0 Prozent ihres Portfolios in Anlagen mit einem Bezug zu Arkansas zu investieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir uns um einen besseren Staat und bessere Märkte bemühen sollten und beide auf ihre jeweiligen Bereiche zu beschränken sind. Dennoch besteht das oberflächliche Staat-versus-Markt-Narrativ weiter, weil Interessensgruppen davon ihn hohem Maße profitieren. Die digitalen Monopole können es nutzen, um sich selbst – fälschlicherweise – als Vorreiter individueller Freiheit zu präsentieren. Befürworter eines schlanken Staates können sich des Narrativs bedienen, um sich gegen Wohlfahrtsprogramme im Namen der so genannten freien Märkte auszusprechen. Und politische Entscheidungsträger und Lobbyisten können es nutzen, um korrupte Unternehmenssubventionen als aufgeklärte staatliche Intervention gegen böse Märkte oder böse Ausländer darzustellen.

Dennoch hat die Gegensätzlichkeit von Staat und Markt ausgedient. Je eher wir dieses postfeudale Relikt loswerden, desto rascher werden wir in der Lage sein, Staaten und Märkte zu nutzen, um den wirklichen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.


Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
Copyright: Project Syndicate, 2021