RusslandDie älteste Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial, soll „liquidiert“ werden

Russland / Die älteste Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial, soll „liquidiert“ werden
Viele russische Bürger hatten sich gestern vor dem Gerichtsgebäude eingefunden, um Memorial zu unterstützen Foto: AFP/Alexander Nemenov

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Russlands älteste Menschenrechtsorganisation soll aufgelöst werden. Der kafkaeske Prozess in Moskau zeigt, dass Reflexe aus dem Stalinismus nicht verschwunden sind: Die Henker hängen die, die diese als Henker entlarvt haben.

Alexej Bagamzew redet leise, manchmal stockt er. „Ich“, sagt er und macht eine Pause. Er setzt nochmals an, holt tief Luft. „Meine Familie ist eine Familie von Tätern, von Geheimdienstoffizieren, die das stalinistische System erschufen und es am Leben hielten. Ein System, das so viel Leid brachte und das jede und jeden in unserem Land betrifft.“ Bagamzew steht im Regen, hier vor dem Obersten Gericht Russlands im Zentrum Moskaus, er hat einen schwarzen Mundschutz an. „Wir sind Memorial. Memorial ist nicht zu verbieten“, steht darauf. Genau das aber versucht die Richterin in dem sechsstöckigen grauen Gebäude. Hinter den Wänden, an denen Bagamzew und Hunderte andere – Studenten, Rentner, Unternehmer – an diesem grauen Novemberdonnerstag ausharren, soll die älteste russische Menschenrechtsorganisation „liquidiert“ werden, wie es in der Juristensprache heißt. Die Entscheidung dafür vertagt das Gericht schließlich bis zum 14. Dezember.

Der Generalstaatsanwalt wirft den Menschenrechtlern vor, sie verstießen gegen „gerechten Anspruch auf Moral“. Was er damit meint, führt er nicht weiter aus. Es ist ein kafkaesker Prozess in Moskau, wieder einmal. Und einer, der einen harten Einschnitt in der Bürgergesellschaft des Landes darstellt. Memorial ist die Hüterin der Erinnerung an die Verbrechen der Sowjetzeit. Kaum jemand anderes sammelt und verwahrt Informationen über Gulag und Terror im Stalinismus wie die unerschrockenen Frauen und Männer, die das Erbe von Repressierten und Dissidenten weitertragen, und weist auf die politischen Verbrechen der Jetztzeit hin. Die Menschenrechtler sind seit der Perestroika von Michail Gobatschow Aufklärer von Familiengeschichten. Für Alexei Bagamzew war die Organisation einst „Augenöffnerin“, wie er leise sagt.

Es ist beschämend, einfach widerlich, was der Staat durch seine gelenkte Justiz hier veranstaltet

Alexej Bagamzew, Mitglied einer Familie von Geheimdienstoffizieren.

„Ich war ein überzeugtes Parteimitglied, der Kommunismus war alles für mich. Der Stellvertreter von Lawrenti Berija, der Schlüsselperson von stalinistischen Säuberungen, war als Freund der Familie zu meiner Hochzeit eingeladen. Meine Eltern waren hohe Parteigenossen, mein Bruder war KGB-Offizier. Ich war einer von ihnen. Dann las ich die Memorial-Materialien über das Massaker von Katyn, verübt vom NKWD. Mein Weg des Aufwachens begann.“

Bagamzew ist heute 69 Jahre alt. Er hat sich viel mit den stalinistischen Verbrechen beschäftigt, hat selbst Aktionen gegen das Vergessen initiiert, war oft bei Veranstaltungen von Memorial. „Es war ein langsamer, schwerer Weg der Erkenntnis, er hat mich mehr als zehn Jahre meines Lebens gekostet.“ Umso mehr schmerze es ihn, dass die Reflexe von damals auch heute griffen, ja sich gar wieder weiter verstärkt hätten, wie er sagt. „Es ist beschämend, einfach widerlich, was der Staat durch seine gelenkte Justiz hier veranstaltet.“

„Staat rechtfertigt sowjetische Verbrechen“

Das als internationale Organisation eingetragene Memorial war vom russischen Justizministerium vor fünf Jahren zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Das Gesetz verpflichtet alle, die eine politische Tätigkeit verübten und aus dem Ausland finanziert würden, sich so zu bezeichnen, überall. Memorials Vergehen: Die Organisation habe neunmal keine Markierung im Internet gesetzt, sechsmal auf Büchern, dreimal in Broschüren und einmal in einem Gesellschaftsspiel. Das beeinflusse Kinder negativ, sagt Dmitri Wagurin, der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft. „Es geht Ihnen also nicht um den Inhalt, es geht nur um die Agenten-Markierung. Das ist eine Formalität“, sagt Grigori Waipan, einer von Memorials Anwälten. „Auf der Site der Generalstaatsanwaltschaft steht keine E-Mail-Adresse, obwohl der Gesetzgeber das einfordert. Soll nun auch die Generalstaatsanwaltschaft aufgelöst werden?“, fragt er.

„Die Verhandlung zeigt, wie unser Staat die sowjetischen Verbrechen rechtfertigt, er verhält sich selbst stalinistisch“, sagen zwei 18-jährige Studentinnen vor dem Gerichtsgebäude. Sie erzählen über die Unterdrückten in ihren Familien, über ihre jüdische Geschichtslehrerin, die trotz Propaganda auch in Schulbüchern offen über die Verbrechen der Sowjetzeit gesprochen habe, über ihren Besuch im Memorial-Museum erst einen Tag zuvor. Ihre Namen behalten sie für sich. „Wir leben in einem unberechenbaren Land. Nennen Sie uns einfach Sascha und Lisa.“ Die Angst sitzt bis heute tief in den Menschen.