ExtremismusDeutscher Innenminister legt Verfassungsschutzbericht vor

Extremismus / Deutscher Innenminister legt Verfassungsschutzbericht vor
Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (r.) und der Präsident des deutschen Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, stellten gestern den Verfassungsschutzbericht 2020 vor Foto: Kay Nietfeld/dpa

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Wachsende Probleme mit Rechtsextremisten, ein Drittel mehr Gewalt von Linksextremisten, unveränderte Gefahren durch islamistischen Terror – bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) deshalb vor einer zugespitzten Sicherheitslage gewarnt.

Mag das öffentliche Leben in der Pandemie im vergangenen Jahr auch über viele Monate heruntergefahren sein, die Zahl politisch motivierter Straf- und Gewalttaten ist dennoch gestiegen. „Extremisten und Terroristen gehen nicht in den Lockdown“, stellte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bei der Vorlage des jüngsten Jahresberichts vor. Viele Extremisten hätten ihre Tätigkeit ins Internet verlagert. „Sie sitzen sozusagen im Home-Office“, erläuterte Deutschlands oberster Verfassungsschützer.

Das Rechtsextremismus-Potenzial ist danach von 32.080 auf 33.300 gestiegen, darunter nahm die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten von 13.000 auf 13.300 zu. Beim Linksextremismus stieg das Potenzial von 33.500 auf 34.300, die Zahl der gewaltbereiten Linksextremisten von 9.200 auf 9.600. Aber auch beim Islamismus-Potenzial ergab sich eine Steigerung von 28.020 auf 28.715 Personen. Seehofer versuchte angesichts dieser Entwicklung, die Öffentlichkeit aufzurütteln: „Wir haben einen Alarmzustand“, warnte der Minister und sprach von einer „sehr, sehr ernstzunehmenden Bedrohungslage“.

Durch die Corona-Pandemie habe die rechte Szene zusätzlichen Auftrieb bekommen. Über die Proteste gegen staatliche Maßnahmen hätten Rechtsextremisten versucht, Anschluss an das bürgerliche Spektrum zu gewinnen. Auf derselben Grundlage sei auch die Reichsbürgerszene gewachsen – von 19.000 auf 20.000 Personen. Die gewaltbereiten Reichsbürger schätzt der Verfassungsschutz auf rund 2.000. Ein Hauptaugenmerk gilt dabei dem Waffenbesitz. In den zurückliegenden fünf Jahren hätten die Behörden Reichsbürgern rund 900 waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Zudem widmete der Verfassungsschutz der „Neuen Rechten“ erstmals ein eigenes Kapitel. Aktivisten und Publikationen seien bemüht, die Grenze des Sagbaren zu verschieben. Sie seien „pseudointellektuell“ unterwegs und bereiteten den Nährboden für gewalttätige Rechtsextremisten und Rechtsterroristen.

Antisemitismus

Der Zulauf zum Rechtsextremismus ist umso bemerkenswerter, als die typischen Anknüpfungspunkte für den Einstieg in die Szene zu einem großen Teil ausfielen: Größere rechtsextremistische Musikveranstaltungen fielen aus. Allerdings gab es in den Monaten mit abgeschwächten Einschränkungen 55 Liederabende und 27 kleinere Konzerte. Die Zahl von Demonstrationen, die von Rechtsextremisten maßgeblich beeinflusst wurden, stieg im Gegenzug von 186 auf 233. Zumindest diese fanden jedoch weniger Zulauf: Die Teilnehmerzahl sank von über 20.000 auf unter 15.000.

Auf der anderen Seite drückte der Minister seine Besorgnis über die um ein Drittel gestiegene Zahl linksextremistischer Gewalttaten aus. Haldenwang nannte Beispiele von Überfällen auf vermeintliche Gegner, bei denen auch der Tod in Kauf genommen worden sei. Im Linksextremismus seien heimlich operierende Kleingruppen zu verzeichnen, bei denen genau beobachtet werden müsse, ob sich daraus linksterroristische Strukturen entwickelten, berichtete Haldenwang.

Um die Einstufung antisemitischer Straftaten werde es in der Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern in den nächsten Tagen gehen, kündigte Seehofer an. Er werde Vorschläge zur genaueren Differenzierung unterstützen, wenn diese belastbare Ergebnisse liefere. Derzeit schreiben die Statistiken 90 Prozent der antisemitischen Straftaten dem Rechtsextremismus zu. Haldenwang bezeichnete Antisemitismus als Klammer, die zahlreiche Extremisten vereine. Zuletzt war es in der Folge der blutigen Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis im Nahen Osten zu antisemitischen Ausschreitungen auf deutschen Straßen gekommen.