Zuerst heulen die Sirenen, dann erklingen Kirchenglocken. Unter den paar Hundert geladenen Gästen aus Israel und Polen befindet sich die heute 91-jährige Warschauer Ehrenbürgerin Krystyna Budnicka, die den Aufstand im Ghetto vor 80 Jahren als Kind miterlebt hatte. Von den jüdischen Kämpfern lebt heute niemand mehr. An ihrer Stelle spricht der bald 97-jährige Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, Marian Turski, der das Ghetto in Lodz überlebt hat.
Turski ballt die Fäuste noch heute, wenn er vom Widerstand im Ghetto spricht. Mit fester Stimme erzählt er von seiner eigenen Befreiung aus dem KZ Theresienstadt durch die Rote Armee. „Ich werde ihnen immer dankbar sein, aber ich werde deshalb nicht schweigen, wenn heute russische Raketen auf ukrainische Städte gefeuert werden“, sagt der Holocaust-Überlebende unter großem Beifall. Turski spannt den Bogen vom Antisemitismus über den Rassismus zur russischen Invasion in der Ukraine und ruft zum Kampf gegen die „Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen“ auf.
Erstmals ist zur Gedenkveranstaltung für den Beginn des Ghettoaufstands in Warschau ein deutscher Bundespräsident eingeladen. Frank-Walter Steinmeier befindet sich gemeinsam mit den Präsidenten Polens und Israels, Andrzej Duda und Izchak Herzog, auf der Bühne, auf der ein Bild der Kämpfe auf dem Muranow-Platz in den ersten Apriltagen von 1943 zu sehen ist. Jüdische Kämpfer hatten dort eine blau-weiß-gestreifte und eine polnische Flagge gehisst. Diese ist nun als einziges Farbelement vor zerstörten Häusern zu sehen. Sie unterstreicht das Programm des polnischen Gastgebers Andrzej Duda, der die jüdischen Kämpfer und polnische Bürger als gute Patrioten bezeichnet und in seiner wortgewaltigen Rede vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen Polen und Israel hervorhebt. Die Menschen, die sich im April und Mai 1943 im Ghetto gegen die deutschen Besatzer erhoben hatten, seien „die Helden Israels, die Helden der Juden auf der ganzen Welt, sie sind die Helden Polens und der Polen“, sagt Duda. Die Aufständischen seien mit ihrem Mut ein Vorbild für israelische und polnische Soldaten, die die Grenzen ihrer Länder bewachten.
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beginnt seine Rede auf Jiddisch. Und erklärt sodann auf Deutsch, mit welcher Demut und Scham er heute in Warschau auf diesem Platz stehe. Er bedankt sich indes auch für die Versöhnung Polens und Israels mit den einstigen Tätern. Dies ist „ein unendlich kostbares Geschenk“, sagt Steinmeier am Denkmal der Helden des Ghettos. Steinmeier erzählt, die Deutschen hätten das Menschheitsverbrechen der Shoa minutiös geplant und durchgeführt. „Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit unvorstellbarer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt, ermordet“, sagt Steinmeier. „Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben“, sagt Steinmeier.
„Nie wieder!“
„Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft“, sagt er. Die wichtigste Lehre aus der deutschen Geschichte laute „Nie wieder!“ Auch Steinmeier schwenkt auf den Ukraine-Krieg über und erläutert. „Nie wieder, das bedeutet: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine – gemeinsam mit Polen und mit unseren anderen Bündnispartnern. Wir unterstützen die Ukraine humanitär, politisch und militärisch – gemeinsam mit Polen und unseren Bündnispartnern.“
Der israelische Staatspräsident Izchak Herzog betont in seiner Rede, die „Fackel der Verantwortung“ müsse an künftige Generationen weitergegeben werden. Herzog hebt vor allem den Aspekt der Versöhnung hervor. Die damals ermordeten Juden hätten es sich nicht vorstellen können, „dass wir 80 Jahre später hier stehen werden, die Präsidenten Polens, Israels und Deutschlands, ihr Heldentum würdigen und gemeinsam in ihrem heiligen Gedenken schwören werden: Nie wieder“, sagt Israels Staatschef.
Während Herzog spricht, steht eine hagere Frau abseits der geladenen Gäste, mit einem Blumentopf Osterglocken in ihrer Hand. Diese zittert unentwegt, so berührt ist die Frau. Osterglocken sind heute das Symbol des Ghettoaufstands. Sie werden am Aufstandsdenkmal verkauft.
Der Aufstand im Warschauer Ghetto
Das Warschauer Ghetto war im November 1940 von den deutschen Besatzern errichtet worden. Die rund 350.000 Warschauer und rund 100.000 weitere Juden aus dem Umland wurden auf engstem Raum mitten im Stadtzentrum eingeschlossen. 1942 begannen die Deutschen mit der Deportation der Juden in Arbeits- und Vernichtungslager. Anfang 1943 befinden sich noch bis zu 60.000 vor allem arbeitsfähige und junge Juden in einem verkleinerten Rest-Ghetto. Als am 19. April 1943 deutsche, lettische und ukrainische SS-Einheiten dort einmarschierten, um auch sie abzutransportieren, begann der Aufstand zweier dürftig bewaffneter jüdischer Kampfverbände. Der Anfang 1943 noch schlecht organisierte polnische Untergrund versuchte, mit Anschlägen auf die Ghettomauer und vereinzelte deutsche Patrouillen zu helfen. Die Kämpfe dauerten bis zum 16. Mai. Nur wenigen Dutzend jüdischen Kämpfern und Zivilisten gelang die Flucht durch die Abwasserkanäle.
De Maart
Um das Ziel "Nie wieder" nachhaltig zu sichern, bedarf es einer tabulosen Aufklärung aller Einflüsse auf die Entstehung und Vorschubleistung von Antisemitismus und radikalisierter Rassehygiene. Auf diesem Feld gibt es in Luxemburg einen enormen Handlungsbedarf. Schweigende Scham ist verhängnisvoll falsch!
MfG
Robert Hottua