Das wahre Gesicht der Flexibilität: Per Leiharbeit werden Grenzgänger und Migranten in Luxemburg ausgebeutet

Das wahre Gesicht der Flexibilität: Per Leiharbeit werden Grenzgänger und Migranten in Luxemburg ausgebeutet

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Durch die Anstellung von Leiharbeitern können Unternehmen die Kollektivverträge und das Arbeitsrecht umgehen. Fehlende Kontrollen, unzureichende gewerkschaftliche Vertretung und ein großes Angebot an Arbeitern auf dem Zeitarbeitsmarkt erleichtern es den Arbeitgebern, Druck auf die Leiharbeiter auszuüben. Aus Angst, keine Anstellung mehr zu finden, verzichten Leiharbeiter oft darauf, die ihnen zustehenden Rechte geltend zu machen. Der unabhängige Gewerkschaftsbund OGBL will sich künftig stärker um ihre Anliegen kümmern.

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„Ausbeutung mit System: Zur Lage der Leiharbeiter“

Zwischen Januar 2017 und Juni 2018 waren laut Angaben des OGBL 18.000 Arbeitnehmer in Luxemburg zeitweise als Leiharbeiter tätig. Die Leiharbeit macht rund 2 Prozent der gesamten Beschäftigung in Luxemburg aus. Das sind rund 9.000 Beschäftigte. Die meisten von ihnen arbeiten im Bausektor, in der verarbeitenden Industrie, im Handel, in der Gastronomie und im Reinigungsgewerbe. Der größte Anteil der Zeitarbeiter stammt aus der französischen Grenzregion, wo die Löhne insgesamt deutlich niedriger als in Luxemburg sind. Eine weitere wichtige Gruppe bilden in Luxemburg lebende Migranten, von denen die meisten aus Portugal und von den Kapverden stammen. Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Zeitarbeitsfirmen stetig an. Vor allem im Süden Luxemburgs machen immer mehr kleine Agenturen den großen, multinationalen Unternehmen wie Manpower, Randstad oder Adecco Konkurrenz.

Das Dreiecksverhältnis

Arbeitnehmer, Zeitarbeitsfirma und Entleihungsunternehmen stehen in einem komplizierten Dreiecksverhältnis, das sich wie folgt darstellt: Eingestellt wird der Leiharbeitnehmer vom Leiharbeitsunternehmen, das die Löhne, Steuern und Sozialabgaben des Arbeitnehmers bezahlt, mit dem es einen Auftragsvertrag abschließt. Anschließend schickt das Leiharbeitsunternehmen den Arbeiter zu einem Entleihungsunternehmen (z.B. Bauunternehmen), wo er dann seine Tätigkeit verrichtet.

Das Entleihungsunternehmen ist seinerseits zuständig für die Arbeitsbedingungen und Sicherheit des Arbeitnehmers, der im Grunde genommen die gleichen Rechte und Pflichten hat wie ein Arbeitnehmer, der fest beim Entleihungsunternehmen angestellt ist. Mit dem Entleihungsunternehmen schließt die Leiharbeitsfirma zusätzlich einen Entleihvertrag ab.

Dieser Vertrag ist eine Art Handelsvertrag und kann nicht innerhalb des Arbeitsrechts angesiedelt werden, wie Julie Roden erklärt.

Kurzzeitverträge sind zur Regel geworden

In den letzten Jahren hätten sich die Bedingungen im Bereich der Zeit- oder Leiharbeit drastisch verschlechtert, erklärt Rachid aus Frankreich. Der 45-jährige Elektriker arbeitet seit über zwei Jahrzehnten als Leiharbeiter auf Baustellen in Luxemburg. Vor 25 Jahren habe er Zeitarbeitsverträge über sechs, drei oder mindestens einen Monat erhalten. Seit zehn oder 15 Jahren würden die Zeitarbeitsfirmen aber nur noch Verträge für höchstens eine Woche abschließen, erklärt Jean-Claude aus der französischen Grenzregion. Auch er ist seit über 25 Jahren als Zeitarbeiter in Luxemburg tätig. Für die Leiharbeitsfirmen, aber auch für die Entleihungsunternehmen, die die Dienste der Arbeitnehmer in Anspruch nehmen, habe diese Praxis viele Vorteile. Sie biete den Firmen mehr Flexibilität, sagt Jean-Claude.

Wenn sie Arbeitnehmer bräuchten, könnten sie Tag für Tag auf diese zurückgreifen. Wenn sie die Arbeiter nicht mehr benötigten, könnten sie sie ohne Begründung und ohne Kündigungsfrist loswerden. „Die Arbeitgeber können ihre Angestellten so von einem Tag auf den anderen vor die Tür setzen“, sagt der 56-jährige Elektriker.

Die Elektriker Jean-Claude, Rachid und Nunes (v.l.n.r.) wollen sich zusammen mit dem OGBL gegen die Ausbeutung der Leiharbeiter zur Wehr setzen

Sämtliche Leiharbeitsfirmen hätten sich inzwischen dieser gängigen Praxis der Wochenverträge angeschlossen. 80 bis 90 Prozent aller Verträge im Leiharbeitssektor seien auf eine Woche oder weniger begrenzt. Eine Mitarbeiterin einer großen Zeitarbeitsfirma, die namentlich nicht genannt werden will, bestätigt diese Aussage. Längerfristige Zeitarbeitsverträge würden nur noch für leitende Angestellte oder Beschäftigte mit seltenen Profilen ausgestellt. Für qualifizierte oder unqualifizierte Arbeiter hingegen nicht. „Dadurch sind wir in einer sehr prekären Lage“, bedauert Jean-Claude.

Feier- und Krankentage werden umgangen

Diese prekäre Lage habe auch damit zu tun, dass die mündlich vereinbarten Wochenverträge häufig erst am Ende der Arbeitsperiode unterzeichnet werden. Der Arbeitnehmer bekomme den Vertrag auch dann erst zu sehen. Das erlaube den Zeitarbeitsfirmen, die Verträge willkürlich zu ändern. Fällt ein Feiertag auf einen Wochentag, würden die Verträge nur bis am Tag vor dem Feiertag ausgestellt. Dadurch brauche die Zeitarbeitsfirma ihren Angestellten den gesetzlichen Feiertag nicht zu bezahlen. In der folgenden Woche werde dann einfach ein neuer Vertrag abgeschlossen. Die Mitarbeiterin der Zeitarbeitsfirma wollte diese Praxis nicht bestätigen.

Üblich sei aber, wenn der Feiertag auf einen Freitag fällt, den Vertrag schon donnerstags zu beenden, weil der Arbeitnehmer am Tag nach dem Feiertag antreten müsse, damit der Vertrag erfüllt sei. Weil samstags aber fast keine Firma arbeite, müsse der Vertrag vor dem Feiertag auslaufen. Diese Mitarbeiterin, die für ein großes Zeitarbeitsunternehmen tätig ist, wollte nicht ausschließen, dass kleinere Firmen anders verfahren.

Die gleiche Praxis werde angewandt, wenn der Arbeitnehmer krank wird, sagt Jean-Claude. In der Regel laufen die Verträge von montags bis sonntags. Doch weil sie erst am Ende der Arbeitsperiode ausgestellt würden, gebe es bei Krankheit keine Garantie, dass der mündlich vereinbarte Vertrag von der Zeitarbeitsfirma erfüllt wird. „Wenn Sie am Mittwoch krank werden, wird die Zeitarbeitsfirma Ihnen nachträglich einen Vertrag für Montag und Dienstag ausstellen. Wenn sie dann aus dem Krankenschein zurück sind, wird der Vertrag bis zum Ende der Woche fortgesetzt“, erläutert Jean-Claude. Laut Julie Roden (Foto), stellvertretende Zentralsekretärin des OGBL-Syndikats Dienstleistungen und Energie, gehe es den Zeitarbeitsfirmen dabei vor allem darum, Kosten zu sparen.

Prekäre Lage durch mangelnden Schutz

Ein weiteres Problem tritt auf, wenn Zeitarbeitnehmer am Wochenende krank werden. Vor einiger Zeit habe er sich an einem Samstag eine Verletzung zugezogen, erzählt Nunes (59) aus Esch, der fast sein ganzes Berufsleben als Leiharbeiter im Bauwesen tätig war. Er sei sofort zum Arzt gegangen, der ihn drei Tage krankgeschrieben habe. Als er montags die Zeitarbeitsfirma über seinen Krankenschein in Kenntnis gesetzt hat, habe diese seinen Vertrag nicht verlängert. Ohne Vertrag sei er aber nicht mehr krankenversichert gewesen.

Es sei ihm schon passiert, dass er montags im Krankenhaus nicht behandelt worden sei, weil sein Vertrag am Tag davor ausgelaufen war und nicht verlängert worden sei. Nicht zuletzt hätten die Wochenverträge auch negative Auswirkungen auf die Steuern und soziale Leistungen wie Familienzulagen, ergänzt Rachid. Jedes Mal wenn ein Arbeitnehmer die Leiharbeitsfirma wechselt, braucht er eine neue Steuerkarte. Wechselt er häufig, kommen die Steuerkarten oft zu spät bei ihm an. Reicht er die Karte nicht rechtzeitig ein, kann die Zeitarbeitsfirma ihm deswegen 33 Prozent Steuern abhalten. Laut der Mitarbeiterin der Zeitarbeitsfirma werden dem Arbeiter die Steuern im Laufe des Jahres zurückerstattet. Nunes, Jean-Claude und Rachid konnten dies nicht bestätigen. Der einzige Weg, um diese Steuern zurückzubekommen, sei über die Steuererklärung.

Dabei unterliegen Leiharbeitnehmer eigentlich dem Kollektivvertrag des Sektors, in dem sie arbeiten. Konkret bedeutet das, dass ein Maurer, der von einer Zeitarbeitsfirma zu einem Bauunternehmen auf eine Baustelle geschickt wird, sowohl dem Kollektivvertrag des Baugewerbes als auch dem betrieblichen Kollektivvertrag des Unternehmens (falls es einen solchen gibt) unterliegt.

Fehlende Kontrollen

Das Problem ist jedoch, dass diese gesetzliche Regelung von vielen Entleihungsunternehmen nicht respektiert wird. „Die Arbeitgeber gehen davon aus, dass viele Zeitarbeiter nicht über ihre Rechte informiert sind“, sagt Julie Roden. Das große Angebot an Arbeitern auf dem Zeitarbeitsmarkt und deren prekäre Lage erleichtere es den Arbeitgebern, Druck auf die Arbeiter auszuüben. „Wenn sie sich nicht fügen, werden sie einfach durch den nächsten ersetzt. Das schreckt natürlich viele Arbeitnehmer davon ab, ihre Rechte geltend zu machen“, sagt Julie Roden. In der Praxis seien Zeitarbeiter weit weniger arbeitsrechtlich geschützt als Fest- oder Teilzeitangestellte. Sie seien sowohl vom Entleihungsunternehmen als auch von der Zeitarbeitsfirma abhängig.

Ursprünglich wurde die Zeitarbeit geschaffen, um Unternehmen die Möglichkeit zu bieten, punktuell auf zusätzliche Arbeitskräfte zurückzugreifen, wenn einmal außergewöhnlich viel Arbeit anfällt oder Not am Mann ist. In letzter Zeit werde die Zeitarbeit aber immer häufiger missbraucht, erläutert Julie Roden. Einerseits würden immer mehr Ausnahmeregelungen und Begründungen zugelassen, andererseits fehle es an Kontrollen.

„Viele Stellen in Luxemburg werden an Leiharbeiter vergeben, obwohl diese Stellen auch mit Teilzeit- oder gar Festangestellten besetzt werden könnten“, sagt Roden. Ein weiteres Problem seien die Sicherheitsmängel auf den Baustellen, beklagt Nunes. Häufig würden die Sicherheitsbestimmungen nicht eingehalten. Zeitarbeiter seien davon am meisten betroffen, weil sie aufgrund ihrer prekären Situation oft die Drecksarbeit erledigen müssten. Zudem seien viele von ihnen nicht mit den gängigen Sicherheitsvorkehrungen vertraut, fügt Julie Roden hinzu. Die Zeitarbeitsfirmen würden kaum Anstrengungen unternehmen, um die Arbeiter darüber aufzuklären.

Forderungskatalog für den Arbeitsminister

Eigentlich wäre die Gewerbeaufsicht ITM dafür zuständig, darauf zu achten, dass sowohl das Arbeitsrecht als auch die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Doch die ITM ist unterbesetzt, häufig dauert es zu lange, bis sie tatsächlich Kontrollen durchführt. „Wir Leiharbeiter fühlen uns von der ITM und den Gewerkschaften im Stich gelassen“, sagt Nunes. Die Leiharbeitnehmer würden aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie hätten kein Recht auf eine Mietwohnung oder einen Bankkredit, weil sie keinen festen Arbeitsvertrag vorweisen können. „Dabei arbeiten sie und tragen somit zum Reichtum des Landes bei“, bedauert der 59-Jährige.

Theoretisch haben Leiharbeiter die gleichen Rechte wie alle anderen Arbeitnehmer auch. In der Praxis sieht es aber anders aus. Leiharbeiter sind bislang nicht gewerkschaftlich organisiert und haben damit niemanden, der für ihre Rechte eintritt. Eigentlich sind die Personaldelegationen der einzelnen Entleihungsunternehmen auch für die Leiharbeiter zuständig, doch die Personalvertreter sind häufig nicht ausreichend über deren Bedürfnisse informiert. Um den Zeitarbeitern künftig mehr Möglichkeiten zu bieten, ihre Rechte geltend zu machen, hat der OGBL vor einigen Monaten damit begonnen, sich stärker mit ihren Anliegen zu beschäftigen. Auf Initiative von Nunes, Jean-Claude und Rachid hat die Escher OGBL-Sektion sich des Problems angenommen.

„Wir haben in den vergangenen Wochen zwei Versammlungen organisiert, zu denen wir Leiharbeiter eingeladen haben“, erzählt der Präsident des Escher OGBL, Nando Pasqualoni (Foto). Dort konnten sie ihre Anliegen vorbringen. Auf Grundlage dieser Zeugenberichte sei die Gewerkschaft dabei, einen Forderungskatalog zu erstellen, den sie noch vor den Sommerferien dem Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) vorlegen will. Die wohl wichtigste dieser Forderungen laute, die Praxis der sehr kurzen Vertragsdauer so weit wie möglich einzudämmen, sagt Julie Roden. Der Minister habe sich bereit erklärt, gesetzliche Nachbesserungen vorzunehmen, bestätigt Nando Pasqualoni. Ferner sei der OGBL dabei, eine zentrale Struktur für Leiharbeiter zu schaffen, an die sie sich bei Problemen direkt wenden können, erläutert Julie Roden. In diesem Rahmen soll auch eine wöchentliche Sprechstunde eingerichtet werden.

 

 

Schullerpii
21. Mai 2019 - 14.29

Der Staat hat, als Arbeitgeber bei den "chargés de cours" seine eigene Gesetze missachtet! Somit den Firmen das hier angeprangerte Verhalten vorgemacht.

Jacques
21. Mai 2019 - 9.59

Moien. Maacht et wéi ech:Grënd einfach Är eege Firma. da beut keen Iech méi aus.

Guy
21. Mai 2019 - 9.30

"...werden Grenzgänger und Migranten in Luxemburg ausgebeutet" An wéi ass et mat den Persounen (op Letzebuerger oder aner Bierger) déi zu Lëtzebuerg wunnen an am privaat Sektor schaffen? Déi gin och ausgebeut an dem lächerlech Gehälter bezuelt gin; an d'Iwwertstonnen net daarfen opgeschriwwen gin. Firmen un vill Suen fir Sportaktivitéiten an Liguen ze bezuelen; mä keng Suen fir d'Klimatisation am Gebäi ze flecken oder mol ze botzen.... Ausbeutung ! Ausbeutung! An oft sen d'Chefen keng Bierger déi vun Lëtzebuerg stammen - mä speziel fir den Job ageflun gin