Retro 2020Das Wachstum erfüllt seinen Zweck nicht mehr

Retro 2020 / Das Wachstum erfüllt seinen Zweck nicht mehr
Der Wohlstand wächst unaufhörlich weiter – das Wohlbefinden jedoch stagniert Foto: Christian Muller

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Immer weniger Menschen schauen hierzulande mit Stolz und Begeisterung auf die gute Entwicklung der nationalen Wirtschaft. Im Gegenteil: Der Finanzplatz wird mit Skepsis beäugt – man versteht ihn nicht. Investitionen in industrielle oder technologische Projekte rufen ebenfalls keine Freudenausbrüche hervor. Schnelles Wirtschaftswachstum wird als schlecht angesehen.

Die Reaktion der Menschen ist verständlich. Das wirtschaftliche Wachstum erfüllt seit Jahren sein eigentliches Ziel nicht mehr: eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Früher war das der Fall: Mit dem Wachstum stiegen die Gehälter, die Wohnungen wurden größer und moderner, die Urlaube länger und extravaganter. Mit dem Wachstum kamen spürbare Verbesserungen.

Auch in den letzten zehn Jahren ist Luxemburgs Wirtschaft kräftig gewachsen: Fast 30 Prozent hat das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2010 und 2019 zugelegt. Selbst im Krisenjahr 2020 wurden fast 4.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Luxemburg boomt. Es gibt immer mehr Wohlstand im Land. Doch die hier wohnenden Menschen haben es nicht bemerkt. Ihr Wohlbefinden ist nicht mit der Wirtschaft gewachsen. Alles, was gefühlt bei ihnen ankam, sind mehr Baustellen, mehr Lärm, mehr Staus und mehr Wassermangel. Gleichzeitig schrumpfen Anfangsgehälter, während Wohnungen teurer und kleiner werden.

Dass es sich bei diesen Aussagen nicht nur um ein Gefühl oder eine Meinung handelt, hat zuletzt Statec mit der Veröffentlichung seines „Luxembourg Index of Well-Being/Rapport PIBien-être“ gezeigt. Der Indikator hat sich seit 2010 kaum bewegt. Erst fiel er ins Minus – seit 2019 liegt er mit gerade einem mageren Prozent im Plus. Der „Indikator zum Luxemburger Wohlbefinden“ untersucht nicht nur den erwirtschafteten Umsatz, sondern viele unterschiedliche Faktoren.

Dass der Indikator in den Jahren 2011 bis 2013 stark in den Minusbereich rutschte, hatte mehrere Gründe: Die Zahl der erfassten Straftaten stieg, die Arbeitslosenquote wuchs (trotz den vielen neu geschaffenen Arbeitsplätzen) und die Armutsgefährdungsquote legte zu. Mitgeholfen, um in den Folgejahren aus dem Minus herauszukommen, haben eine Verbesserung des Sicherheitsgefühls, ein steigendes Vertrauen in die Institutionen, mehr Einwohner mit Hochschulabschluss und ein Sinken der Arbeitslosenquote.

Nach zehn Jahren des satten Wachstums gab es dann jedoch unter dem Strich kaum eine Verbesserung des Wohlbefindens – trotz 30 Prozent Wirtschaftswachstum. Zudem wurde der magere Zuwachs im Jahr 2019 mit Corona wieder zunichtegemacht. Im sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bereich wurden durch Lockdowns negative Folgen verzeichnet. Die Arbeitslosenquote ist heute, mit 6,3 Prozent, in etwa auf dem gleichen Niveau wie 2011/13. Ungleichheiten sind während Krise und Lockdown sichtbarer geworden. Derweil hat die Armutsgefährdungsquote seit 2010 ununterbrochen zugelegt: von 12 auf 17,5 Prozent im Jahr 2019.

Eigentlich ist unumstritten, dass allein auf eine Steigerung des Umsatzes und des Bruttosozialproduktes hinzuarbeiten, hierzulande nicht mehr ausreicht. Und doch. Ein geringeres oder sogar stagnierendes Wirtschaftswachstum ist keine Alternative – es würde zu Verteilungskämpfen führen, nicht zu mehr Wohlbefinden. Zudem herrscht wieder mal Krise. Neue Jobs müssen geschaffen und neue Einnahmen müssen gefunden werden. An Wachstum führt also kein Weg vorbei.

Doch Wachstum muss nicht auf Kosten der sozialen und natürlichen Umwelt passieren. Und eine Verbesserung der Lebensqualität der Menschen ist nicht nur eine philosophische Überlegung, sie ist messbar. Etwa mit dem Indikator für Wohlbefinden.

Aktuell werden im Rahmen des Indikators 27 Bereiche untersucht. Mit dazu zählen Themen wie Ungleichheiten, Gesundheit, Arbeit, Bildung, Work-Life-Balance, Umwelt, physische Sicherheit oder die Beziehungen zu Familie oder Freunden und auch Wohlstand. Die Zahl der Kriterien ist sicherlich (nach Diskussion in der Gesellschaft) weiter ausbaufähig. Je mehr anerkannte Kriterien der Index enthält, desto besser lässt sich die Entwicklung des Wohlbefindens, die Lebensqualität der Menschen, schlussendlich messen. Der Indikator hätte jedenfalls mehr Aufmerksamkeit verdient.

Wohlstand und Wohlbefinden entwickeln sich nicht in die gleiche Richtung
Wohlstand und Wohlbefinden entwickeln sich nicht in die gleiche Richtung Screenshot: Statec
MarcL
7. Januar 2021 - 12.35

@Kapitalist: In Luxemburg hat man eher den Eindruck, dass man Wachstum braucht um Probleme zu lösen die man ohne Wachstum nicht hätte. Unter solchen Umständen kann das Böse auch entstehen. Hohes menschliches Wohlbefinden ist nunmal nicht gleichzusetzen mit hohem Wirtschaftswachstum.

Kapitalist
5. Januar 2021 - 17.17

Wachstum hat nichts mit Geiz oder Ressourcenverschwendung zu tun. Im Gegenteil es ist ein Ergebnis des technischen Fortschritts. Wenn ein Land/eine Region kein Wachstum hat bedeutet dass es zu wenig Innovationen erlebt und Arbeitsproduktivität stagniert. Fortschritt (und Konkurrenz auf den Märkten ist eine wichtige Voraussetzung dafür) erlaubt es uns verschiedenste Probleme, darunter auch ökologische Probleme zu lösen, die arme bzw. Länder mit niedriger Arbeitsproduktivität und wenig Innovation nicht lösen können. Darüber hinaus kann eine Gesellschaft langfristig nur funktionieren, wenn es positives Wirtschaftswachstum gibt; das hat die Geschichte unzählige Male und ohne Ausnahmen gezeigt. Wir brauchen Wachstum um umverteilen zu können; wenn der Kuchen zu klein ist oder nicht mehr wächst, kann man das immer weniger; dann steigt Unzufriedenheit und der Kreislauf des Bösen beginnt.

Zehlen
5. Januar 2021 - 15.25

D'Leit géife gären alleguer op der Gemeng oder beim Staat schaffen an dobäi sinn dat Plazen déi als éischt vun der AI ersat wäerte ginn.

Gariuen
4. Januar 2021 - 15.15

@Hypokrit "Es ist wunderbar zu erleben dass wir mittlerweile einen scheinbar niedrigeren Lebensstandard anstreben wollen und dabei vergessen wie gut es uns während unserer Kindheit doch ging." Sie haben also auch als Kind schon gearbeitet und Zeitung gelesen? Respekt.

Steuerzahler
4. Januar 2021 - 13.49

Wir brauchen Wachstum weil es Schulden gibt die an Zinsen gekoppelt sind. Mathematisch gesehen ist die Rückzahlung der Staatsschuld unmöglich denn sie wird ja schon allein durch die Zinslast immer grösser. Zudem enstehen Zinsen aus dem Nichts (sie existieren rell ja nicht) auf dem Papier durch Vergabe von Krediten, müssen aber später reel zurückgezahlt werden. Jedes Kleinkind müsste eigentlich verstehen, dass so etwas nicht funktionnieren kann, es sei denn man nimmt in Kauf, dass Millionen von Menschen immer ärmer werden um eine kleine Minotrität von Menschen immer reicher zu machen. Ist das der menschliche Fotschritt?

Hypokrit
3. Januar 2021 - 13.13

Es ist wunderbar zu erleben dass wir mittlerweile einen scheinbar niedrigeren Lebensstandard anstreben wollen und dabei vergessen wie gut es uns während unserer Kindheit doch ging.

J.Scholer
3. Januar 2021 - 9.55

Wenn eine Gesellschaft das Arbeiten verlernt hat, auf hohen Niveau jammert der Spaßfaktor, die Konsumgewohnheiten mit kleinen Einschränkungen belegt wird, Sport , Kunst entlohnt werden muss, der Staat nach dem Gießkannenprinzip eine Familien-,Gesellschaftspolitik betreibt,das Unterstützen nicht lebensnotwendiger Betriebe zur Maxime macht , europäische Interessen vor nationale Interessen setzt , braucht man sich nicht zu wundern im Endeffekt der Kreislauf zusammenbricht.

en ale Sozialist
31. Dezember 2020 - 18.54

Man muss nicht unbedingt ein Oekonomist zu sein, um zu wissen, dass das Wachstum an seine Grenzen stösst. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel und Geld ist nicht alles. Der Materialismus und die egoistische Einstellung die er zwangsläufig mit sich bringt, vergiften die Gesellschaft und gehen auf Kosten der gesunden Lebensqualität. Das Konkurrenzdenken und der Konkurrenzkampf zerstören schleichend das gesellschaftliche Zusammenleben.