Tageblatt: Herr Nagel, der Butterpreis ist der Inflationsmesser im Alltag. Wissen Sie, was 250 Gramm Butter kosten?
Joachim Nagel: Ich kaufe samstags oft für meine Familie ein. Zuletzt habe ich für mein Päckchen Butter etwa 3 Euro bezahlt. Das ist deutlich mehr als letztes Jahr.
Die Inflation liegt bei 7,5 Prozent. Wie geht es weiter? Für Bürger ist die Teuerung das zentrale Thema …
Sie können sicher sein: Für mich auch. Für das gesamte Jahr 2022 sehen wir die Inflationsrate in der europäisch harmonisierten Berechnung in Deutschland bei über acht Prozent. In den kommenden Monaten haben wir viele Sondereffekte: Der Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket laufen aus, das dürfte die Inflationsrate um gut einen Prozentpunkt erhöhen. Die Gasumlage kommt, im Gegenzug soll die Mehrwertsteuer auf Gas gesenkt werden, was wiederum die Preise dämpft. In Summe ist in den Herbstmonaten sogar eine Inflationsrate von zehn Prozent möglich. Zweistellige Inflationsraten wurden in Deutschland das letzte Mal vor über 70 Jahren gemessen. Im vierten Quartal 1951 waren es nach den damaligen Berechnungen elf Prozent.
Wie geht es bei der Inflation im nächsten Jahr weiter?
Das Thema Inflation wird 2023 nicht verschwinden. Lieferengpässe und geopolitische Spannungen dürften fortwirken. In unserer Juni-Projektion erwarteten wir für 2023 eine Teuerung von 4,5 Prozent. Inzwischen hat Russland seine Gaslieferungen drastisch reduziert und die Preise für Erdgas und Elektrizität sind stärker gestiegen als erwartet. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die Inflation höher ausfällt als bislang prognostiziert und wir im nächsten Jahr im Schnitt eine Sechs vor dem Komma haben.
Wenn sich die Energiekrise zuspitzt, erscheint eine Rezession im kommenden Winter wahrscheinlich
Was passiert mit der deutschen Wirtschaft, wenn der trockene Rhein für eine Verschärfung der Lieferengpässe sorgt oder die Gaslieferungen komplett ausfallen?
Im Juni sind wir davon ausgegangen, dass das Wirtschaftswachstum 2022 bei knapp zwei Prozent liegen wird. Aus heutiger Sicht dürfte es etwas weniger sein. Die deutsche Wirtschaft lief im ersten Halbjahr unter schwierigen Bedingungen noch ganz passabel. Kommen jetzt aber weitere Lieferprobleme etwa durch langanhaltendes Niedrigwasser hinzu, würden sich die Wirtschaftsaussichten für das zweite Halbjahr weiter eintrüben. Wenn sich die Energiekrise zuspitzt, erscheint eine Rezession im kommenden Winter wahrscheinlich.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erklärt, sie wolle die Inflation mittelfristig auf nahe zwei Prozent bringen. Wann ist mittelfristig?
Geldpolitische Maßnahmen wirken nicht sofort. Und wie schnell sie wirken, hängt auch von den jeweiligen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Der EZB-Rat ging in seiner Juni-Projektion davon au s, dass wir im Jahr 2024 im Euroraum wieder eine Inflationsrate von knapp über zwei Prozent haben werden. Die Unwägbarkeiten sind derzeit aber ausgesprochen hoch. Um unser Ziel zu erreichen, haben wir im EZB-Rat auf unserer Sitzung am 21. Juli ein deutliches Zeichen gesetzt. Wir haben den Leitzins um einen halben Prozentpunkt erhöht und weitere Schritte in Aussicht gestellt.
War das nicht zu spät? Hat die EZB die Inflation nicht völlig unterschätzt?
Die Stärke des Inflationsanstiegs hat die gesamte Fachwelt überrascht. Bis Mitte 2021 haben wir die Inflation überschätzt, seitdem haben wir sie unterschätzt – diesen Schuh müssen wir uns anziehen, ebenso wie andere Prognostiker auch. In solchen außergewöhnlichen Zeiten sind Prognosen aber auch mit außergewöhnlicher Unsicherheit verbunden.
Waren die Prognosen der EZB schlecht oder wollte die EZB aus politischen Gründen die Inflationsgefahr nicht sehen?
Die Notenbanker wissen, was ihr Mandat ist: Preisstabilität und nicht Länderinteressen. Wir haben es mit vielen Krisen und großen Umwälzungen zu tun: erst die Pandemie, seit Februar der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Solche Ereignisse lassen sich schlicht nicht vorhersagen. Mit den Folgen haben dann auch die Prognose-Modelle verständlicherweise ihre Probleme, da sie ja auf Regelmäßigkeiten und stabile Zusammenhänge abstellen.
Die EZB hat den Einlagesatz auf null Prozent erhöht. Was heißt das für die Sparer?
Die Zeit der Negativzinsen ist vorbei, viele Banken und Sparkassen haben ihre Verwahrentgelte bereits gestrichen. Bis Jahresende dürften die anderen folgen.
Auch die Kreditzinsen ziehen wieder an. Erwarten Sie nun Pleiten von Hausbauern, die sich übernommen haben?
Das Zinsniveau ist immer noch sehr moderat. Es ist aber möglich, dass der eine oder andere nun in Schwierigkeiten gerät. Eine lawinenartige Entwicklung erwarte ich allerdings nicht.
Am 8. September steht die nächste Zinsentscheidung der EZB an. Womit müssen wir rechnen?
Bei den hohen Inflationsraten müssen weitere Zinsschritte folgen. Das wird auch allgemein erwartet. Ich will aber keine Zahl ins Schaufenster stellen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass wir bei der Geldpolitik von Sitzung zu Sitzung entscheiden müssen. Das hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf ihrer jüngsten Pressekonferenz völlig zu Recht betont.
Die EZB hat mit dem Transmission Protection Instrument (TPI) ein neues Instrument geschaffen, um hoch verschuldete Länder vor einer ungeordneten Marktdynamik zu schützen. Belohnt die Notenbank damit nicht ein leichtfertiges Ausgabeverhalten von Regierungen?
Halt … Bei diesem neuen Instrument geht es gerade nicht darum, einzelnen Regierungen in Schieflagen beizustehen. Das Instrument hat einen geldpolitischen Zweck: Es kann nämlich vorkommen, dass geldpolitische Maßnahmen nicht mehr richtig auf die Inflation im Euroraum durchwirken. Das kann passieren, wenn die Finanzmärkte schlecht funktionieren und etwa die Zinsen in einzelnen Ländern ungerechtfertigt hochschießen. In einer solchen Ausnahme-Konstellation kann das TPI aktiviert werden, um diese Störungen zu beheben. Wir haben dabei klargemacht, dass wir das Instrument nur unter einer Reihe von Bedingungen aktivieren würden. Es gilt weiterhin uneingeschränkt: Die Regierungen sind für ihre Haushalts- und Finanzpolitik verantwortlich. Wenn also die nationale Haushalts- und Finanzpolitik die Zinsaufschläge steigen lässt, ist dies kein Fall für das TPI.
Die Kriterien sind von der EZB schwammig formuliert. Will sich die Notenbank nicht doch eine Hintertür offenhalten, um eingreifen zu können, wenn Länder wie Italien oder Griechenland durch rasant steigende Anleihe-Zinsen in die Bredouille geraten?
Der EZB-Rat hat – wie schon in früheren Fällen – das Instrument im Juli im Grundsatz beschrieben. Im Falle seiner Aktivierung wird er es mit Blick auf den Einzelfall konkretisieren. Wie schon gesagt, ist sein Ziel die Beseitigung von Störungen der geldpolitischen Transmission und nicht die „Rettung“ einzelner Länder.
Das könnte ja noch kommen, wenn die politische Situation etwa in Italien nach den vorgezogenen Wahlen instabil wird.
Für die politische Lage einzelner Länder sind die dortigen Regierungen zuständig. Die Aufgabe der EZB und der nationalen Notenbanken ist die Preisstabilität im Euroraum. Wir wollen verhindern, dass wegen ungerechtfertigter Marktreaktionen unsere geldpolitischen Maßnahmen nicht richtig greifen. Dafür ist dieses Instrument gedacht. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir es nur bei klaren Marktstörungen und unter strikten Bedingungen aktivieren.
Ist die EZB für eine mögliche neue Euro-Krise gerüstet?
Der Euroraum ist an den verschiedenen Krisen gewachsen: Er hat aus der Vergangenheit dazugelernt und Instrumente geschaffen, um mit künftigen Verwerfungen besser umgehen zu können. Schließlich wird auch die Finanzwelt heute engmaschiger beaufsichtigt.
Gibt es wirklich kein Sorgenkind in der Eurozone?
Meine Hauptsorge gilt der Inflation im Euroraum.
Sie wollen also einzelne Länder nicht nennen?
Nein. Natürlich sind wir Mahner, wir senden Signale an die Regierungen, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und unter anderem für ordentliche Haushalte sorgen. Denn die Wirtschafts- und Finanzpolitik beeinflussen auch die Inflationsrate und die gemeinsame Geldpolitik. Wie wichtig solide Finanzpolitik ist, zeigt nicht zuletzt das deutsche Beispiel. Aufgrund der geordneten Staatsfinanzen kann die Bundesrepublik die Corona-Pandemie und auch die Folgen des Überfalls auf die Ukraine finanzpolitisch bisher relativ gut bewältigen.
Wenn Sie die Inflation als Ihre Hauptsorge bezeichnen, warum kauft dann die EZB noch immer in hohem Umfang Staatsanleihen auf?
Die Nettokäufe von Staatsanleihen wurden im Juli eingestellt. Wir ersetzen nur noch fällig werdende Papiere. Der Gesamtumfang wächst also nicht mehr, sondern bleibt gleich. Natürlich wird der Abbau der Bestände mit Blick auf die weitere Normalisierung ein Thema sein. Jetzt erhöhen wir zunächst unsere Leitzinsen.
Ein großes Thema ist die Transformation der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität. Das beschäftigt auch die EZB. Wie grün darf die Geldpolitik sein?
Der Klimaschutz ist eine gesellschaftlich und politisch eminent wichtige Aufgabe. Die klimapolitischen Maßnahmen, aber auch der Klimawandel selbst berühren die Teuerung. Wir schauen uns die Wechselwirkungen also aus gutem Grund genau an. Und wir tragen auch selbst zur Transformation bei, beispielsweise indem wir auf eine größere Transparenz von Klimarisiken in den Bilanzen von Banken und Unternehmen hinwirken. Über allem steht aber unser gesetzlicher Auftrag: Preisstabilität.
De Maart
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