RusslandDas St. Petersburger Corona-Desaster: Wie das EM-Gastspiel zu einer riesigen Corona-Party wurde

Russland / Das St. Petersburger Corona-Desaster: Wie das EM-Gastspiel zu einer riesigen Corona-Party wurde
St. Petersburger Fanzone zu Beginn des Turniers: An der Newa werden täglich bis zu 1.000 Menschen hospitalisiert Foto: AFP/Olga Maltseva

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Ungeachtet steigender Infektionszahlen werden weiter Massenveranstaltungen unter Missachtung von Schutzkonzepten durchgeführt. Am Freitag steigt das letzte EM-Spiel an der Newa.

„Russland wird stark sein! Das Fest findet statt! So eine Nacht gibt es nur einmal im Leben!“ Diese Worte sprach Alexander Beglow, Gouverneur von St. Petersburg, vor 40.000 Schulabgängern. Die Jugendlichen hatten sich vor dem Winterpalast versammelt, um dem Schulschluss-Spektakel „Rote Segel“ beizuwohnen. Die populäre Veranstaltung, organisiert von Stadtregierung und der Putin-nahen Rossija-Bank, findet immer Ende Juni statt. Trotz des neuen Corona-Ausbruchs ging das Event auch am vergangenen Freitag über die Bühne.

Es war ein bombastisches Freiluftspektakel mit Konzerten, Showeinlagen und einem mit roten Segeln beflaggten Schiff, das die „großartige Zukunft“ der jungen Menschen versinnbildlichen soll. Als es über die Newa glitt, erhellte ein Riesenfeuerwerk den Himmel und die russische Hymne erklang. Die Menschenmassen – ausgelassene Jugendliche, dicht an dicht, natürlich ohne Masken – wirkten wie ein grotesker Kommentar zum derzeitigen Infektionsgeschehen.

Denn neben Moskau macht derzeit ausgerechnet St. Petersburg durch steigende Covid-Zahlen, hervorgerufen durch die Delta-Variante, auf sich aufmerksam. Seit einigen Tagen zählt man im Land täglich mehr als 20.000 Corona-Neuinfektionen. An der Newa werden täglich bis zu 1.000 Menschen hospitalisiert. In Russland starben von Montag auf Dienstag offiziell 652 Menschen an Covid – trauriger Rekord seit Beginn der Pandemie. 119 Tote zählte man allein in St. Petersburg.

Bilder von vollen Spitälern machen wieder die Runde

Fotos von Rettungswagen, die in Schlangen vor den Krankenhäusern der nördlichen Metropole warten, sowie von überfüllten Spitälern, in denen Patienten auf Matratzen im Korridor liegen, machen wieder die Runde. Dass Covid Russland erneut hart trifft, liegt am langsamen Impffortschritt. Erst knapp zwölf Prozent der Bevölkerung (17 von 144 Millionen) sind vollständig geimpft. Das Impfziel von 60 Prozent der Bevölkerung bis Ende August wird nicht erreicht werden. Das gestand der Kreml am Dienstag erstmals offiziell ein.

Doch trotz des unzureichenden Schutzes der Bürger schieben die Petersburger Regionalbehörden die Corona-Krise beiseite und richteten in letzter Zeit zahlreiche Massenveranstaltungen aus. Die „Roten Segel“ sind nur der Höhepunkt einer fahrlässigen Politik, die vor in der Öffentlichkeit unbeliebten Einschränkungen zurückschreckt. Auf das St. Petersburger Wirtschaftsforum zu Monatsbeginn, wo noch eifrig getestet wurde, folgten sechs EM-Spiele in zwölf Tagen. Von einem Sicherheitskonzept war nicht mehr viel zu bemerken. Die Fanzonen waren voll, Hygienevorschriften wurden ignoriert. Zurückkehrende Fans brachten das Virus mit in ihre Heimat. Neben dem Fußballspaß war das EM-Gastspiel auch eine riesige Corona-Party. Und sie ist noch nicht zu Ende: Das Viertelfinalspiel Schweiz gegen Spanien steigt am Freitag. Im besten Fall halbherzig ist die jüngste Reaktion: Einzig die Gastronomie in den Fanzonen wurde geschlossen.

65 Prozent der Staatsangestellten will man in Petersburg nun zur Impfung verpflichten: Der Staat setzt seine administrativen Ressourcen ein, wo es leichtfällt. Sonst schmettern die Regionalbehörden jegliche Kritik ab. Dass eine Verbindung besteht zwischen dem laxen Management und dem jüngsten Ausbruch, wird einfach bestritten. Auch der Kreml deckt diese Argumentation. Sprecher Dmitrij Peskow erklärte diese Woche: „Jede Großveranstaltung wird begleitet von Empfehlungen der lokalen Hygiene-Behörden. Diese wurden in St. Petersburg ausgearbeitet – und vor Ort umgesetzt.“ Moskau zeigt damit nicht zum ersten Mal, dass es sich in der Corona-Frage die Finger nicht schmutzig macht.

Schwarzmarkt-Handel mit gefälschten QR-Codes

Sollte die Lage in einer Region außer Kontrolle geraten, wird die Schuld beim Gouverneur zu suchen sein. Tatsächlich haben die Regionalregierungen diverse Corona-Regime erlassen, deren Implementierung aber wegen der Enthaltung der Zentralmacht oft holpert. Der sonst so starke, kontrollwütige Staat ist in der Corona-Krise seltsam schwach. Das spürt auch die Bevölkerung, die der Krise mit demonstrativer Wurstigkeit, Negieren von Fakten und einem Schuss Aberglauben begegnet.

In Moskau ist die Lage ebenfalls angespannt. Nach der Einführung einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen kommt es kurzfristig zu mehr Ansturm auf die Impfzentren. Auch neue Beschränkungen in der Gastronomie sind in Kraft getreten: Nur noch Geimpfte, Genesene und Getestete mit einem QR-Code dürfen die Innenräume von Gaststätten besuchen. Die Folge seit Wochenbeginn: leere Lokale – und Schwarzmarkt-Handel mit gefälschten QR-Codes. Schnellrestaurants haben indes die Sitzbereiche geschlossen und auf Selbstabholung umgesattelt. Vor den Imbissketten bilden sich lange Schlangen – und hohe Müllhaufen.

Observer
30. Juni 2021 - 18.17

Bei der Tour der France kann man gerade dieselbe Ignoranz am Streckenrand sehen.Keine Maske, null Abstände und schreiende Fans. Das kann nicht gut sein!