Das Sozialamt Nordstad ist das Luftkissen am Ende des freien Falls

Das Sozialamt Nordstad ist das Luftkissen am Ende des freien Falls

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Für Chantal M. (Name von der Redaktion geändert) war es ein Montag wie jeder andere. Die Kinder verließen das Haus Richtung Schule, sie selbst machte sich auf den Weg zur Arbeit. Eine Stunde später begann für die 32-Jährige eine nicht enden wollende Odyssee.

Sie hatte gerade an ihrem Schreibtisch Platz genommen und ihren Computer gestartet. Die Kollegen und Kolleginnen im Büro tauschten sich noch über das vergangene Wochenende aus, als auf dem Bildschirm von Chantal M. die Nachricht erschien, dass ihr Arbeitsplatz „aus wirtschaftlichen Gründen“ ab sofort gestrichen sei. Um sie herum wurde es plötzlich still und diese Stille sollte Jahre andauern.

Ab dem Tag ging für Chantal M. alles drunter und drüber. Fast täglich gab es Streit zwischen ihr und ihrem Mann, dessen Arbeitsplatz ebenfalls auf der Kippe stand, die Kinder zogen sich immer öfter in ihre Zimmer zurück, wollten allein sein. Mit den Schulnoten ging es bergab, die Ehe war zerrüttet und endete wenig später in einer Scheidung. Das Geld für die Miete der Drei-Zimmer-Wohnung kam nicht mehr zusammen, das Leben wurde zu einem wahren Überlebenskampf.

Neun Gemeinden

Chantal M. wurde immer deprimierter. Der Zustand der viel zu kleinen Hinterhofwohnung, in die die dreiköpfige Familie einziehen musste, war desaströs. Mit billigem Fusel wollte die Frau wenigstens für einige Momente alles um sich herum vergessen. Die Kinder wendeten sich von ihr ab und zogen zur Tante. Als Bekannte Chantal M. rieten, zum Sozialamt zu gehen, meinte sie kurzerhand: „Mein letztes Quäntchen Stolz, das ich noch habe, lässt nicht zu, dass ich zum ‚Aarmebüro‘ gehe.“

Eine Freundin konnte sie dann trotzdem davon überzeugen, gemeinsam das Sozialamt aufzusuchen. Der freie Fall, in dem sich Chantal M. befand, konnte abgefedert werden. Sie erhielt Hilfe und arbeitete sich langsam, aber sicher wieder aus dieser Situation. Sie hatte plötzlich wieder Kraft geschöpft und hoffte, dass sie bald wieder ein gutes Leben führen könne.

Chantal M. ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie schnell ein Mensch nach unten gezogen werden kann. Dass die Zahl solcher Fälle stetig steigt, bestätigten uns Sozialamts-Leiter Alain Lenertz, Sozialarbeiterin Malou Winter-Hoffmann und René Engel. Letzterer ist verantwortlich für den „Service d’accompagnement, de logement et de travail“ (SAL) und für das Projekt „Arcade“ (siehe unten).

Sozialer Abstieg geht heutzutage schnell

Das „Office social Nordstad“ ist das viertgrößte seiner Art in Luxemburg. Der Zuständigkeitsbereich umfasst die sechs „Nordstad“-Gemeinden Colmar-Berg, Schieren, Ettelbrück, Erpeldingen/Sauer, Diekirch und Bettendorf sowie die Gemeinden Bourscheid, Feulen und Mertzig (insgesamt 30.600 Einwohner).

Malou Winter-Hoffmann, die 1992 als Sozialarbeiterin in Diekirch begann, unterstrich, dass sich im vergangenen Jahr ganze 1.239 Haushalte an das Amt gewendet haben. Zum Vergleich: Im Jahr 2011 habe diese Zahl bei fast 800 gelegen.

Auf die Frage, warum das so ist, gibt Malou Winter-Hoffmann zu verstehen, dass der soziale Abstieg heute viel schneller vonstatten geht, da keiner mehr für den anderen da ist, um ihn bei Bedarf aufzufangen.

2017 wurden insgesamt 4.371 Gespräche mit Antragstellern geführt, so die Mitarbeiter. In 28,5 Prozent der Fälle handelte es sich um luxemburgische, in 32,5 Prozent um portugiesische Haushalte. Der Rest verteilt sich auf andere Nationalitäten.

Fünf Hauptprobleme

In 282 Fällen waren Alleinerziehende betroffen, in 89 Fällen Paare ohne Kinder, in 302 Paare mit Kindern, 79 Mal ging es um ganze Familiegruppen und sieben Mal um Eheleute im Dritten Alter. „Viele Fälle zeigen uns sehr deutlich, dass der soziale Mindestlohn längst keine Sicherheit zum Überleben ist.“

„In unserer täglichen Arbeit sind wir hauptsächlich mit fünf Problemen konfrontiert“, erklärten Alain Lenertz (Foto) und Malou Winter-Hoffmann. „Das sind Probleme in puncto Finanzen, Wohnen, Arbeit, Gesundheit oder auch noch Konflikte in der Familie. In vielen Fällen liegen gleich mehrere Probleme vor, die eng miteinander verstrickt sind.“

Das rund 20-köpfige Team des Sozialamtes versucht, den Hilfesuchenden wieder zu mehr Autonomie zu verhelfen. „Allein mit finanzieller Unterstützung ist es nicht getan. Es ist immer eine Begleitung über einen längeren Zeitraum notwendig. Es genügt nicht, Betroffene wieder an die Wasseroberfläche zu bringen, sie müssen auch schwimmen lernen, damit sie sich selbst über Wasser halten können.“


STATISTIK

4.371 Gespräche hat das Office social Nordstad nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr geführt. Nachfolgend die Anzahl der Personen aus den verschiedenen Gemeinden, die sich 2017 an das Amt gewendet haben:

Ettelbrück: 1.767
Diekirch: 1.132
Bourscheid: 334
Bettendorf: 309
Colmar-Berg: 270
Schieren: 208
Erpeldingen/Sauer: 164
Feulen: 121
Mertzig: 66


Projekt „Arcade“: Arbeitslose mit RMG

Im Jahresbericht 2017 des Projektes heißt es: „Le projet Arcade se définit comme une structure qui assure l’encadrement par le travail et l’accompagnement d’équipes d’ouvriers en affectation temporaire (…). Initiée par l’ancien Office social d’Ettelbruck en 1995, le projet Arcade est affecté à la commune d’Ettelbruck.“

Ziel von „Arcade“ ist also in erster Linie die Wiedereingliederung von Arbeitslosen, die mit dem garantierten Mindesteinkommen leben, in die Arbeitswelt. Diese Leute (die Anzahl variiert zwischen 30 und 35) verrichten Arbeiten, die im öffentlichen Interesse sind, so z.B. Unterhalt von Parkanlagen der Gemeinde. Sie werden dabei von Fachleuten begleitet. Zudem wird innerhalb der Zeit, in der sie sich am Projekt beteiligen, versucht, einen geeigneten Arbeitsplatz für sie zu finden.

30,71 Prozent sind zwischen 31 und 40 Jahre alt, 23,86 Prozent zwischen 41 und 50, 20,05 Prozent zwischen 18 und 24 und 12,69 Prozent zwischen 25 und 30. Der Rest verteilt sich auf die verbleibenden Alterskategorien.

„Arcade“ ist derzeit in den früheren Räumlichkeiten der Feuerwehr im Ettelbrücker Zentrum untergebracht. Diese haben sich jedoch als zu klein erwiesen und werden den heutigen Anforderungen in keinster Weise mehr gerecht. Ein neues Dach über dem Kopf könnte das Projekt „Arcade“ aber in geraumer Zeit in der Handelszone am Ausgang von Ettelbrück bekommen. „Mehr kann man dazu nicht sagen, weil wir uns, natürlich gemeinsam mit der Gemeinde, erst in der Planungsphase befinden“, heißt es von den Verantwortlichen.


„Service d’accompagnement, de logement et de travail“

Der „Service d’accompagnemen, de logement et de travail“ (SAL) versucht, bezahlbare Wohnungen für die Antragsteller zu finden. „Die angeschlossenen Gemeinden haben uns schon entsprechende Wohnungen zur Verfügung gestellt und werden dies in den nächsten Jahren vermehrt tun“, erzählte SAL-Mitarbeiter René Engel. Auch von Privatleuten haben wir Wohnungen angemietet. In diesem Fall zahlen wir maximal 550 Euro für ein Studio, 670 Euro für eine Wohnung mit einem Schlafzimmer sowie maximal 10 Euro pro Quadratmeter für Wohnungen mit mehr als 65 Quadratmetern. Zurzeit können wir auf 47 Wohnungen zurückgreifen, die wir weitervermitteln können.“ Hier lassen folgende Zahlen aufhorchen: Standen 2015 ganze 40 Familien auf der Warteliste, so waren es 2016 bereits 90. Heute sind es über 180.

roger wohlfart
25. August 2018 - 10.28

Ich stelle mir das schrecklich vor, was Chantal M da passiert ist. Der reinste Horror. Schon allein die Art und Weise, wie sie von ihrere Entlassung, ohne Vorwarnung und persönliches Gespräch erfahren hat, ist ein Skandal. Dass so was überhaupt möglich ist! Aber wir leben in einer Zeit, wo die Arbeitgeber immer rücksichtsloser werden gegenüber den Arbeitnehmern. Letztere fühlen sich im Stich gelassen. Wer vertritt noch ihre Interessen? An wen sich wenden? Der Einfluss der Gewerkschaften wird immer geringer. Europa-und weltweit bereichert sich eine Minderheit auf Kosten der Werktätigen. Die Schere zwischen Reichtum und Armut wird zusehends weiter… und es passiert nichts. Viele bedürftige Menschen fühlen sich allein , im Stich gelassen . Kein Wunder, dass die Populisten und Nationalisten immer grösseren Zulauf bekommen. Die etablierten Parteien haben scheinbar den Kontakt zum Fussvolk verloren und stehen immer mehr unter dem Einfluss der alles bestimmenden Wirtschaft. Was zählt ist der Wachstum und damit die rücksichtslose Bereicherung einer Oberschicht, die durch Geld Macht ausübt. Der Kapitalismus hat auf der ganzen Linie gesiegt, mit allen, sich daraus ergebenden, Konsequenzen. Auf der Strecke bleibt das Wesentliche, das worauf es im Leben wirklich ankommt: die Menschlichkeit!

Bender
25. August 2018 - 10.11

Tja vill vun eise Politiker verdénge gutt mat un den héíchen Immobiliepräisser, resp. hun all selwer méi wéi genuch Suen fiir déi pervers Präisser ze bezuelen. Et gett emmer vu Kompetitivitéit gebraddelt an dobäi gett komplett ignoréiert wat fiir Effekter extrem héich Loyeren hun. Déi Extrakäschten bezuele mer all mat, eng Spiral.

Laird Glenmore
24. August 2018 - 15.54

Das liegt doch nur an der Gier des Menschen, wenn die Immobilien Besitzer nicht so vehement auf überteuerte Mieten bestehen würden das brauchten viel Luxemburger nicht ins benachbarte Ausland ziehen wo die Mieten und Kaufpreise noch erschwinglich sind. Letzte Woche stand im Tageblatt das die Armutsgrenze unter € 4.076 anfängt wie viel Prozent der Luxemburgischen Arbeitnehmer haben ein Gehalt an oder über der € 4.100,-- grenze, nicht genug sonst hätten wir nicht den Mißstand in der Mittelschicht, Luxemburg entwickelt sich so wie es in Great Britain ist entweder man ist Reich oder Arm da zwischen gibt es nichts, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen wo das noch enden soll. Ich denke der Staat sollte da mal einschreiten um die Sachlage auf dem Immobilienmarkt zu klären, damit renovierungsbedürftige oder Leerstehende Häuser nicht zum Spekulationsobjekt werden, damit man den Wohnungssuchenden noch mehr Geld aus der Tasche pressen kann, zur Not sollte man zu lange Leerstehende Häuser einfach enteignen und den Besitzern den tatsächlichen Marktwert bezahlen dann hätte man wenigstes Wohnungen die in der Art des " Fonds des Logement " die bezahlbar wären. Ja die arme Frau steht nun ohne Arbeit da, aber man will die 38 Stundenwoche was für ein Hohn.