Der Alltag von JugendlichenDas Heim ist ihr Zuhause, auch in der Corona-Pandemie

Der Alltag von Jugendlichen / Das Heim ist ihr Zuhause, auch in der Corona-Pandemie
Michèle Kridel, Direktorin der Organisation „Solina – Solidarité Jeunes“, erläutert im Tageblatt-Gespräch, wie die Corona-Pandemie den Kindern und Jugendlichen in ihren Wohnheimen zu schaffen macht. Auch für die Erzieher können manche Situationen zur Herausforderung werden. Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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Die Corona-Pandemie belastet Kinder und Jugendliche. Junge Menschen in Heimen sind quasi einer Doppelbelastung ausgesetzt, insbesondere, wenn sich das Virus dort ausbreitet. Ein Bericht.

Im Januar 2021 folgte eine Quarantäne auf die andere. Das Virus hatte sich in dem Heim, wo 20 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren leben, ausgebreitet. Am Ende hatten sich 18 von ihnen mit Covid-19 infiziert, sagt Michèle Kridel, Direktorin der Organisation „Solina – Solidarité Jeunes“ im Tageblatt-Gespräch. Einen Monat lang dauerte der zusätzliche Ausnahmezustand inmitten der bereits existierenden Pandemie. Die Wohngruppe „Vivo“ in Gasperich ist eines von neun Häusern der Organisation. Die positiv getesteten Jugendlichen und jene, die direkten Kontakt zu ihnen hatten, mussten sich in Quarantäne begeben. In einem Heim bedeutet dies eine strikte Isolation im Zimmer. Die Erzieher waren sich bewusst, dass eine solche Situation die jungen Leute extrem schwächen würde. Es musste um jeden Preis verhindert werden, dass die Jugendlichen sich verlassen fühlten.

Am Morgen stehst du auf, du schaust in die sozialen Netzwerke rein, du lernst, ansonsten steht Netflix oder Fernsehen an. Es gibt nicht so viele Dinge, die man in einem Zimmer tun kann, die Tage werden sehr lang.

Pauline, Bewohnerin im Heim

Die Direktorin zitiert Pauline, eine Jugendliche, die im „Foyer Vivo“ lebt und ihren Alltag in der Isolation wie folgt beschreibt: „Am Anfang war es schwierig, den ganzen Tag in seinem Zimmer zu bleiben. Am Morgen stehst du auf, du schaust in die sozialen Netzwerke rein, du lernst, ansonsten steht Netflix oder Fernsehen an. Es gibt nicht so viele Dinge, die man in einem Zimmer tun kann, die Tage werden sehr lang. Mental wurde ich derart müde, dass ich sehr viel schlief.“ Die Erzieher haben laut Pauline viel Unterstützung angeboten und meinten, dass es nicht schlimm sei, dass man da wieder rauskomme. „Wir hatten sehr schnell den Eindruck, dass die Dinge unter Kontrolle sind.“

Michèle Kridel spricht von einer Doppelbelastung. „Die Jugendlichen im Heim waren in dieser Situation isoliert und gleichzeitig weit weg von zu Hause“, erklärt sie. Als die Bewohner in Quarantäne waren, konnten sie ihre Eltern nicht, wie normalerweise an den Wochenenden, besuchen. Im weiteren Sinne ist das „weit weg von zu Hause“ auch so zu verstehen, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern leben. „75 Prozent unserer Bewohner werden über das Jugendgericht bei uns platziert, die anderen kommen über ein ‚placement volontaire‘“, sagt sie. Demnach leben zwei Drittel in den Heimen der Organisation, weil es zu Hause Schwierigkeiten gab. Das können laut Kridel familiäre oder schulische Probleme, Krankheiten, Misshandlungen oder aber Schwierigkeiten mit der Disziplin sein. „,Normale‘ Jugendliche sind eh schon belastet, diese hier umso mehr“, sagt sie.

Besuche sehr selektiv und streng limitiert

Andererseits sei es aber auch gut für die Kinder und Jugendlichen, dass sie während der Pandemie eben nicht bei den Eltern waren, sagt Kridel. Wenn ein junger Mensch in einer Familie lebt, wo das Umfeld nicht gesund ist, wo die Wohnung klein ist, wo es eventuell auch zu häuslicher Gewalt oder zu Missbrauch kommt, dann ist das laut Kridel sicherlich nicht positiv für das Kind. Im Heim könnten die Jugendlichen auf die Unterstützung der Erzieher zählen, die ihnen Mut machen, mit ihnen reden. „Deshalb bin ich überzeugt davon, dass es vielen Bewohnern noch viel schlechter gehen würde, wenn sie in der Pandemie bei ihren Familien bleiben müssten.“
In den Heimen der Organisation werden Kinder zwischen vier und 18 Jahren – manchmal auch leicht drüber – aufgenommen. Für Volljährige gibt es Wohnstrukturen für betreutes Wohnen. Dort können die jungen Leute in der Regel bis zum Alter von 21 Jahren bleiben. In den Heimen liegt die Altersgrenze bei 18 bis 19.

Als essenzieller Punkt für die Entwicklung der Kinder nennt Michèle Kridel die Bindungen, welche die Kinder eingehen. „Um Bindungsabbrüche so weit wie möglich zu vermeiden, probieren wir, die Kinder – wenn sie älter werden – stets im gleichen Heim zu halten.“ Manche kommen als kleine Kinder in die Einrichtungen von Solina und bleiben, bis sie erwachsen werden. Dennoch sei dies nicht immer möglich. Andere Bewohner kommen laut Kridel erst mit 16 Jahren in die Einrichtungen. Viele haben eine – wie Kridel sagt – „typische Heimkarriere“. Sie sind von klein auf von einem „Foyer“ ins Nächste gereist, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

Das war für die Jugendlichen hier sehr schwierig zu ertragen, weil sie von morgens bis abends alleine in ihren Zimmern hocken mussten

Michèle Kridel, Direktorin „Solina – Solidarité Jeunes“

Am Anfang der Pandemie haben manche Bewohner das Gefühl gehabt, dass das Virus nicht in ihr Heim eindringen werde, sagt die Direktorin. „Das ist oft bei jungen Menschen so. Sie glauben, dass es sie nicht betrifft, nur die anderen.“ Die Erzieher mussten dieser Annahme mit viel Aufklärung entgegenwirken. „Als die Jugendlichen nicht mehr viel Besuch empfangen konnten, haben sie es am eigenen Leibe gespürt“, sagt Kridel. „Wenn jeder seine Eltern oder seinen Freund mitbringt, dann hat man schnell 30 Leute im Haus. Das können wir nicht machen.“ Deshalb müsse man da sehr selektiv und streng limitieren. Und dann kam der Januar 2021. „Das war für die Jugendlichen hier sehr schwierig zu ertragen, weil sie von morgens bis abends alleine in ihren Zimmern hocken mussten.“ Die Erzieher sind laut Kridel in Ganzkörperschutzanzügen von Zimmer zu Zimmer gelaufen. Sie haben den Bewohnern Teller mit Essen reingestellt, die Temperatur gemessen und versucht, sie aufzumuntern. Zum Rauchen habe man den Jugendlichen erlaubt, rauszugehen.

Großer Personalaufwand wegen Homeschooling

Als besonders problematisch nennt die Direktorin das Tragen von Masken im Heim. „Wenn wir abends nach getaner Arbeit oder unsere Kinder aus der Schule kommen, dann ziehen wir als Erstes die Maske aus. Wir sind dann zu Hause.“ Doch die Jugendlichen in den Heimen müssen diese auch zu Hause anlassen, bis sie abends ins Bett gehen. Für sie ist das Heim ihr Zuhause. „Ich finde das sehr schlimm“, sagt Kridel. „Als wir die ersten Covid-Fälle im Heim hatten, haben wir gesehen, was das für Auswirkungen hat.“ Die Erzieher, die normalerweise mit den Jugendlichen an einem Tisch essen, konnten das nicht mehr tun. Nur noch vier Leute im jeweiligen Abstand von zwei Metern konnten an einem Tisch sitzen. Die Erzieher mussten die Maske anlassen und konnten folglich nicht mitessen. Da sich im Januar dann auch Erzieher angesteckt hatten, habe man sich die Frage gestellt, wen man jetzt noch zum Arbeiten habe.

Einen großen Personalaufwand gab es laut Michèle Kridel auch beim Homeschooling. Schulschließungen und die A/B-Gruppen haben den Erziehern ziemlich zugesetzt. Am Anfang sei die Beschaffung von Material wie Laptops eine große Herausforderung gewesen. Normalerweise gibt es in jedem Heim jeweils einen Laptop für die Bewohner und einen für die Erzieher. Wenn aber nun bis zu zehn Kinder und Jugendliche mehr oder weniger gleichzeitig Homeschooling machen sollen, dann reicht das nicht aus. „Wir haben zusätzliches Material über das Bildungsministerium finanziert bekommen“, sagt Kridel. Dennoch sei die Informatikabteilung im Dreieck gesprungen, weil jeder gleichzeitig Material brauchte. Beim Homeschooling mussten die Erzieher die Bewohner intensiv unterstützen. Es reiche nicht, einfach nur einen Laptop dahinzustellen. Neben der technischen Hilfe fiel auch noch die Hausaufgabenhilfe an. „Wir mussten mehr Personal in die Gruppen geben“, sagt Kridel.

Ich glaube, dass die Langzeitfolgen nicht zu unterschätzen sind, die die Isolierung der jungen Menschen mit sich bringt

Michèle Kridel, Direktorin „Solina – Solidarité Jeunes“

Wie kann man den Heimbewohnern in der Corona-Pandemie das Leben erleichtern? „Wir versuchen alles zu tun, was ihnen Freude macht und was auch möglich ist“, sagt die Direktorin. Sie nennt ein Beispiel. Für die Gruppe, die sich in Quarantäne befand, habe man draußen im Garten ein Lagerfeuer mit Stockbrot organisiert. An Karneval habe man mit der geschlossenen Quarantäne-Gruppe eine Art Corona-Party gefeiert. Die Gruppe war drinnen isoliert, da sie sich in Quarantäne befand. Für Kridel war es die Möglichkeit, ein wenig Normalität zurückzubekommen. Die Jugendlichen werden zudem darin unterstützt, in Vereine zu gehen, oder sonst einfach rauszugehen, sofern dies möglich ist. „Ich glaube, dass die Langzeitfolgen nicht zu unterschätzen sind, die die Isolierung der jungen Menschen mit sich bringt.“

Allgemein könne man sagen, dass die jungen Menschen, die bereits fragil waren, durch die Pandemie noch viel fragiler geworden seien. „Die Psychiatrien sind voll, das ‚Kanner a Jugendtelefon‘ wird sehr viel benutzt, bei unseren Beratungsdiensten haben wir enorme Wartelisten. Es gibt viele Fälle, die uns über Selbstmordversuche berichtet werden.“ Dennoch haben laut Kridel viele Jugendliche in ihren Heimen einen gewissen Kampfgeist. Manche sagen, dass sie schon viel in ihrem noch jungen Leben durchgemacht haben, dann werden sie auch dies noch schaffen. In der Pandemie habe auch die Solidarität untereinander zugenommen. Und der Respekt gegenüber den anderen, sagt Kridel.