Das große Vergessen: Wie man mit Demenzkranken umgeht

Das große Vergessen: Wie man mit Demenzkranken umgeht

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Die Menschen werden heute immer älter. Oft erkranken „Bomi“ oder „Bopi“ an Demenz. Für Angehörige ist das eine enorme Belastung. Wenn Frans Meulmeester nach Luxemburg kommt, suchen viele Betroffene Hilfe bei ihm. In der Welt der Pflegeheime hat er einen Namen, die Zuhörer kommen zahlreich. Seine Vorträge beschreiben Szenen im Umgang mit den Kranken, die alle kennen. Gleichzeitig sind sie praktische Ratgeber im Umgang mit der neuen Situation.

Tageblatt: Was bedeutet ein an Demenz erkranktes Familienmitglied für die Angehörigen?
Frans Meulmeester: Es ist zuerst einmal eine schreckliche Situation, die sich da auftut. Und es ist ein Trauerprozess, den die Angehörigen von da an durchmachen. Wenn jemand stirbt, ist das zwar auch so, aber die Person ist nicht mehr da. Bei Demenz muss man sich von dem Menschen verabschieden, der er einmal war, aber gleichzeitig mit der Person umgehen. Es ist eine Art von chronischer Trauer, die sich über Jahre hinzieht.

Das Kaffeepad im Kühlschrank, die Zeitung in der Toilette: Sie raten dazu, nicht zu diskutieren. Warum?
Diskutieren bringt die Konfrontation mit dem Fehler. Das ist dem Kranken peinlich. Und es bringt Frust, weil der Demenzkranke sich nicht daran erinnern kann. Es endet immer mit einer verfahrenen Situation, die niemandem guttut.

Von vielen Angehörigen ist zu hören, „das hat doch alles keinen Sinn mehr“. Sie sagen, es hat sehr wohl Sinn …
Es ist oft so, dass die Angehörigen meinen, der- oder diejenige erkennt sie nicht mehr. Meistens ist aber noch eine Art von Erkennen da, es kann nur nicht mehr gesagt werden. Es drückt sich aber in einem anderen Blick oder über eine Veränderung des Verhaltens aus. Deswegen bleibt der Besuch wichtig. Auch Demenzkranke sind soziale Wesen.

Viele Demenzkranke sind unruhig. Angehörige können schlecht damit umgehen. Ihr Rat?
Angehörige wollen das gerne lösen, weil es ein schrecklicher Anblick für sie ist. Die Unruhe ist für sie schlecht zu ertragen, weil das nicht nach Glück oder Zufriedenheit aussieht. Ich empfehle: ruhig bleiben, ein Gespräch suchen, Ablenkung und einen anderen Platz aufsuchen.

Viele Demenzkranke machen Sachen, die Nicht-Kranke nicht verstehen. Wie erklären Sie das?
Die Generation der heute 80-, 90-Jährigen definiert sich bei den Männern oft über die Arbeit, die Frauen über ihr Mutter- oder Großmuttersein. Im Heim ist alles weg. Was bin ich noch? Wenn sie über die frühere Arbeit reden können oder wie es war als Mutter, ist das der Ausweg aus dem Gefühl, nichts mehr wert zu sein. Für Angehörige ergibt sich daraus eine sehr gute Möglichkeit, mit den Erkrankten ein Gespräch zu beginnen.

Wie wichtig ist Musik für Demenzkranke?
Nicht für alle gilt das, was ich jetzt sage. Aber für sehr viele ist Musik überaus wichtig, weil es angenehm ist und verbindet. Musik berührt emotional. Sie ist eine Art von Kontakt, vor allem, wenn die Sprache schon fehlt.

Wie wichtig ist Ehrlichkeit in der Beziehung zu Demenzkranken? Vor allem, wenn der Heimaufenthalt ansteht, weil es zu Hause nicht mehr geht?
Sehr wichtig. Zu sagen, das ist nur vorübergehend, ist auch als Versuch zu trösten nicht richtig. Das gilt auch für die offen gelassene Hoffnung, es ginge bald wieder nach Hause. Da müssen klare Worte gesprochen werden, sonst kann niemand richtig damit umgehen. Vor allem die Demenzkranken können die neuen Lebensumstände sonst nicht verarbeiten.

Viele Demenzkranke wollen nichts mehr unternehmen. Gerade der „fittere“ Ehepartner leidet oft darunter. Warum ist das so?
Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Oft steht hinter diesem Verhalten die Angst, schon wieder wegen eines „Fehlers“ kritisiert zu werden. Sie sind schon so oft gescholten worden, dass sie diese Situation unter allen Umständen vermeiden wollen. Manchmal ist es auch einfach, so, dass derjenige sein Leben lang aktiv war und im hohen Alter keine Lust mehr hat, alles mitzumachen.

Einem Einsatz von Medikamenten stehen Sie sehr kritisch gegenüber. Warum?
Demenz wie auch Alzheimer ist medikamentös bis jetzt nicht heilbar. Das muss man wissen. Manchmal helfen bewusst eingesetzte Medikamente gegen Unruhe oder gegen Verstimmungen, aber sie haben Nebenwirkungen. Das muss man auch wissen.

Was geben Sie pflegenden Angehörigen für einen Rat?
Das Verhalten des Demenzkranken empathisch zu verstehen. Es ist ein Sinn dahinter. Für sich selbst müssen pflegende Angehörige für Erholung und Ausgleich sorgen.

Das ist ja aber oft nicht möglich, weil die Pflege von Demenzkranken ein 24-Stunden-Job ist. Und viele haben bei dem Gedanken an eine Tagespflege Schuldgefühle …
Da muss mithilfe professioneller Unterstützung geklärt werden, woher kommen die Schuldgefühle? Pflegende Angehörige sollten sich nicht schämen, Beratungsstellen aufzusuchen und für sich selbst Hilfe zu suchen, um den Alltag zu bewältigen. Und sie sollten sich auch nicht schämen, klar zu sagen, „jetzt geht es nicht mehr,“ und einen Heimplatz zu suchen.

Ist Demenz eine Zivilisationskrankheit?
Nein, eine Zivilisationskrankheit ist es nicht. Wir sind mehr Menschen auf der Erde und wir haben heute mehr Menschen 80+. Deshalb gibt es auch mehr Demenzkranke. Ich teile die Meinung nicht, dass wir in Zukunft mit noch mehr Demenzkranken rechnen müssen. Das ist völlig offen.


Das Tabu: Demenz in Luxemburg

In Luxemburg leben nach Angaben des Statec rund 7.000 Menschen, die an einer Form von Demenz erkrankt sind. Die Zahl stammt aus dem Jahr 2013 und findet sich auch auf dem „Portail officiel du Grand-Duché de Luxembourg“.

Nach Angaben des Info-Zenter Demenz liegt die Dunkelziffer im Land aber viel höher, nämlich bei 10.000 bis 11.000. Demenz ist immer noch ein Tabu in Luxemburg. „Die hohe Dunkelziffer erklärt sich damit, dass viele sich die Krankheit nicht eingestehen wollen“, sagt Jean-Marie Desbordes, Direktor des Info-Zenter Demenz. Hinzu kommt: „Man kann davon ausgehen, dass 50-80 Prozent der Senioren in luxemburgischen Altenheimen an einer mehr oder weniger leichten Form von Demenz leiden“, sagt Desbordes.

Das einzige speziell für Demenzkranke ausgelegte Pflegeheim wird von der „Association Luxembourg Alzheimer“ (ALA) betrieben und ist in Erpeldingen an der Sauer. In „Beim Goldknapp“ leben aktuell nach Angaben der ALA 116 Personen.

Die ALA betreibt auch sechs Tagesstätten (Bonneweg, Dahl, Esch/Alzette, Rümelingen, Düdelingen, Dommeldingen), wo Demenzkranke den Tag verbringen. 203 Menschen mit Demenzerkrankung und ihr soziales
Umfeld wurden dort 2017 begleitet.

Die Kosten einer Unterbringung in einer Tagesstätte der ALA betragen durchschnittlich 137,96 Euro pro Tag. Diese werden je nachdem von der Pflegeversicherung übernommen. Dazu kommen zusätzlich 26,24 Euro („Täglicher Pensionspreis“ – „Accueil gérontologique“). Die Unterbringung im Pflegeheim der ALA kostet 2.754,01 Euro monatlich.

Schätzungen oder Prognosen, wie sich die Zahl der von der Krankheit betroffenen Menschen entwickelt, sind schwierig. Auf dem „Portail“ wird bis 2025 von 8.500 Demenzkranken in Luxemburg ausgegangen. „Die Menschen heute leben anders als die Generation davor“, sagt Desbordes vom Demenzzenter, „wenn sie gesundes Essen, Bewegung und die Pflege sozialer Kontakte im Auge behalten, haben sie gute Chancen, im Alter nicht zu erkranken.“


Zur Person

Frans Meulmeester (68) ist Niederländer und lebt in Rotterdam. Er ist ausgebildeter Grundschullehrer, Gestalttherapeut und Clown, hat einen Master in Sozialpädagogik und sich später als Berater auf das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen spezialisiert. Er arbeitet als Gestalttherapeut, Berater und Coach in Ländern wie Nepal, Bulgarien und Georgien. In Luxemburg gilt er in Fachkreisen der Altenpflege als gefragter Referent.