PorträtDas Alter kann mir nichts: Aus dem Leben eines Hundertjährigen

Porträt / Das Alter kann mir nichts: Aus dem Leben eines Hundertjährigen
Rund 50 Gäste hatten am vergangenen Dienstag mit Raymond Gille seinen 100. Geburtstag gefeiert   Foto: privat

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Einmal 100 zu werden, damit rechnen wohl die wenigsten. Und dennoch liegt die runde Zahl für zahlreiche Senioren Luxemburgs in greifbarer Nähe, denn immer mehr Menschen sind auch im hohen Alter noch fit. Wie es sich mit 90plus leben lässt, verraten die Familien von Raymond Gille und Gréidi Stammet-Bieren, beides Amiperas-Mitglieder, die noch lange nicht am Ende angekommen sind.

„Esou al gëtt keng Kou!“ lautet ein Sprichwort auf gut Luxemburgisch, das wohl fast jeder kennt. Kühe mögen in der Tat nicht gerade das Sinnbild hohen Alters sein, der Begriff „Hundertjährige(r)“ hingegen ist in Luxemburg längst kein Fremdwort mehr. Die Eins mit den zwei Nullen durfte sich am vergangenen Dienstag ebenfalls Raymond Gille aufschreiben. Mit Akkordeonspielern, Geburtstagstorte und etwa 50 Gästen feierte der sanftmütige Rentner im Haus seiner Tochter in Kayl sein stolzes Alter – so richtig alt findet er selbst sich allerdings nicht. „Mein Vater sitzt zwar hauptsächlich im Sessel und läuft mit einem Gehstock, einen Rollator nehmen will er aber nicht – er ist ja nicht alt“, meint Arlette Gille mit einem Lachen. Noch bis vor sechs Jahren fuhr Raymond munter mit dem Wagen durchs Land – natürlich nur bekannte Strecken und strikt gemäß dem „Code de la route“. Seit seinem Sturz ist der Rentner allerdings gemütlicher geworden und die Tage des gewohnten Spazierens sind Vergangenheit.

Die Liebe zur Gartenarbeit wurde Raymond Gille bereits in die Wiege gelegt
Die Liebe zur Gartenarbeit wurde Raymond Gille bereits in die Wiege gelegt Foto: privat

„Unser Papa war immer viel in Bewegung. Früher ist er jeden Tag zu Fuß von Zolver bis zur Arbed nach Belval gelaufen und bis 85 hat er regelmäßig kilometerlange Strecken mit unseren Hunden zurückgelegt“, erzählt Arlette. Schon in seiner Kindheit war Raymond es gewohnt, an der frischen Luft zu sein. Auf einem kleinen Bauernbetrieb in Warcq nahe Verdun wuchs der Junge vom Land auf, erst als sein Vater bei einem Unfall starb, zog es die Familie zurück nach Luxemburg. „Eigentlich hat unser Vater eine Lehre zum Frisör gemacht, doch im Krieg musste er nach Frankreich fliehen, um nicht eingezogen zu werden. Dort wurde er bei den Maquisards in einer Scheune versteckt und half den Landwirten im Betrieb“, so Arlette. Nach Ende des Krieges kam der junge Luxemburger wie so viele andere auf der heimischen Schmelz unter und lernte 1951 in Zolver seine spätere Frau Marie kennen.

 Foto: Editpress/Claude Lenert

Das richtige Umfeld

Die Ehe hält bis heute, mit 100 und 91 leben Raymond und seine Liebste noch immer gemeinsam im eigenen Haus in Schifflingen. Möglich ist dies allerdings nur mit Hilfe, so Arlette: „Die Pfleger von Help helfen meinen Eltern täglich beim Anziehen und Waschen und zweimal wöchentlich kommt ein ‚Kiné‘, um mit meinem Vater Übungen zu machen. Er hat etwas Probleme mit den Beinen und schläft in einem speziellen Krankenhausbett im Wohnzimmer.“ Neben der Unterstützung von professioneller Seite ist es vor allem aber das engagierte Netzwerk aus Familie und Nachbarn, das das Leben außerhalb eines Altenheims ermöglicht. „Alle sind sehr involviert und schauen regelmäßig nach unseren Eltern. Meine Mutter macht das meiste zwar noch selbst, aber Dinge wie Grillen oder Pastete zubereiten schafft sie dann doch nicht mehr so wie früher, deshalb kochen wir ihnen alle 14 Tage etwas Leckeres“, meint Arlettes älterer Bruder Aly.

Gekocht wurde in der Familie Gille immer schon gerne, auf den Tisch kommt dabei nur, was frisch ist. „In Zolver hatten unsere Eltern immer einen großen Obst- und Gemüsegarten, das war ihr Hobby. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater dort stets etwas aß und mir erklärte, dass man, wenn man jeden Tag eine Knoblauchzehe isst, 100 Jahre alt wird. Das hat ja wohl geklappt“, erzählt Arlette mit einem Lachen. Mit viel Bewunderung beschreibt die Kaylerin den Mann, der ihr so einiges beigebracht hat: „Mein Vater war schon immer ein sehr ruhiger und zufriedener Mensch, der sich nie über etwas beklagt hat. Von ihm habe ich meine Liebe zu Tieren und zum Tanzen. Er war früher auf jeder Hochzeit der Erste auf der Tanzpiste und da meine Mutter diese Leidenschaft nicht teilte, hat er sich eben einen Besen geschnappt und ist damit umhergewirbelt.“

Mit Freude dabei

Einen Walzer schafft der Rentner mit 100 zwar nicht mehr, dafür verbringt er seine Zeit nun aber mit anderen Dingen, die ihm Freude bereiten. Vor allem Lesen und Fußball stehen bei Raymond täglich auf der Aktivitätenliste – auch wenn das Zepter der Fernsehfernbedienung mittlerweile in die Hände seiner Frau gefallen ist. Im nächsten Jahr feiert das Paar seinen 70. Hochzeitstag. Ein Jubiläum, das allerdings auch seinen Preis besitzt: „Die Kehrseite der Medaille ist, dass fast keiner mehr da ist, denn die meisten seiner Freunde sind bereits verstorben.“ Auch Enkel gibt es von den drei eigenen Kindern keine, nur „Enkeltiere“, wie Arlette die vierbeinigen Mitglieder der Familie bezeichnet. Für Raymond allerdings kein Grund, Trübsal zu blasen, denn außer ein paar Wehwehchen hier und da ist der Rentner noch putzmunter und zeigt dies auch bei seiner Geburtstagsfeier. „Wir hatten Bedenken, ob ihm nicht alles zu viel werden würde, aber abends nach dem Fest hat er nur zu mir gemeint, er hätte noch länger dasitzen können, um den Musikern zuzuhören.“

Einen Grund zum Feiern hat in drei Jahren ebenfalls Marguerite Stammet-Bieren. Gréidi, wie ihre Familie und Freunde sie nennen, ist stolze 97 und für ihr Alter noch eine wahre Naturgewalt. Ohne Heizung lebt die gebürtige Düdelingerin alleine in ihrem Haus in Merl – als Mädchen aus dem „Quartier italien“ ist man schließlich kalt und warm gewohnt. Am 27. November 1922 wurde Gréidi im Minett geboren, nach dem Tod ihres Vaters wuchs sie bei den Großeltern auf. An die Kindheit in der Wirtschaft und Mercerie der Familie erinnert sich die Rentnerin noch, als ob es gestern gewesen wäre. Es sind aber vor allem die Jahre danach, die Gréidi im Gespräch mit Tochter Yvette erwähnt: „Damals hätte ich eingezogen werden sollen. Bei der Musterung im Januar gab ich an, bald heiraten zu wollen, und mir wurde gesagt, ich müsse dies bis März tun, sonst würde man mich nach Polen schicken.“ Gesagt, getan – und so heiratete die 19-Jährige nach nur sechsmonatiger Bekanntschaft den Mann, den sie im Viertel als „den mit dem gelben Pullover“ kannten.

Die Luft macht’s

Am Faschingsmontag hätte die Ehe 78-jähriges Jubiläum zelebriert, doch seit 1992 ist Gréidi verwitwet. Helfen tut ihr im Alltag vor allem die mittlere ihrer drei Töchter, auch wenn die Lebensweise ihrer Mutter oft für Uneinigkeit sorgt. „Das Haus ist alt und nicht komfortabel, sie könnte es doch irgendwo anders viel schöner haben“, meint Yvette. Vor allem die Leidenschaft ihrer Mutter für den eigenen Garten bereitet der 73-Jährigen regelmäßig Kopfzerbrechen: „Meine Mutter hat vier Wirbel aufeinanderliegen und darf sich eigentlich gar nicht mehr bücken. Ich ärgere mich immer grün und gelb, wenn ich sie besuche und wieder ein Eimer Unkraut vor der Tür steht.“ Draußen zu sein, hat Gréidi allerdings schon früher gefallen, vor allem die Landarbeit „op der Gewan“ beim benachbarten Bauer erledigte die Rentnerin stets gerne.

Und auch heute noch genießt Gréidi die frische Luft, wie die 97-Jährige verrät: „Bis vor Kurzem habe ich immer alle Fenster im Haus offen gelassen und meine Tür sperre ich auch erst ab, seit mein Nachbar einmal nachts die Polizei gerufen hat, weil er dachte, jemand wäre hier eingebrochen. Ich musste dem jungen Beamten um 4 Uhr in der Früh versprechen, fortan abzuschließen.“ So richtig seniorenfreundlich sind die Temperaturen im rosafarbenen Haus nicht – für die ganz kalten Tage hat Gréidi aber einen kleinen elektronischen Heizkörper zur Verfügung, ansonsten gibt es ja die Kochmaschine, die etwas wärmt. Aussagen, über die Tochter Yvette nur den Kopf schütteln kann, doch es ist wohl genau diese Sturheit, die Gréidi ihren Alltag auch im hohen Alter noch so gut meistern lässt. Ihre Zeit verbringt die Rentnerin mit stricken, Kitschzeitung lesen, Krimisendungen schauen und kochen, nur beim Putzen und Waschen lässt sie sich mittlerweile von einem Seniorendienst helfen.

Dem Alter trotzen

Zum Kaffeetrinken in die Stadt fährt Gréidi mit dem öffentlichen Transport, allerdings stören sie hier mittlerweile die vielen Baustellen: „Das ist nicht mehr interessant und da mir meine Beine derzeit etwas Schwierigkeiten bereiten, gehe ich nun lieber hier im Viertel spazieren.“ Wer jetzt aber glaubt, Gréidis Tage würden sich vor allem zu Hause abspielen, der irrt, denn bei der Rentnerin steht so einiges auf dem Programm. „Freitags fahre ich mit meiner Mutter in die Belle Etoile, damit sie dort ihre Einkäufe erledigen kann. Dienstags bringt Adapto sie dann zur Amiperas nach Bonneweg, dort kann sie mit den anderen Damen plaudern“, erklärt Yvette. Sorgen bereitet ihr, dass sich beim Adapto-Dienst kürzlich die Nutzungsvoraussetzungen geändert haben und Gréidi nun trotz gelber Invalidenkarte Schwierigkeiten hat, den Seniorenbus zu bestellen. „Dann nehme ich eben den Linienbus“, meint die 97-Jährige bestimmt. Dieselbe Entschlossenheit zeigt sich beim Thema Fotos: „Kein Bild von mir in der Zeitung!“ 

Die eine wortstark und aktiv, der andere eher schüchtern und gemütlich – auch wenn sich die Persönlichkeiten der Senioren deutlich unterscheiden, wird eines bei den Interviews schnell klar: ein wirkliches Rezept zum „Hundertwerden“ scheint es wohl nicht zu geben, doch die Generation der Vorkriegsjahre ist eine, die sich nicht so schnell unterkriegen lässt. Trotz Rücken- und Beinschmerzen lassen sich Raymond Gille und Gréidi Stammet-Bieren die kleinen Freuden im Alltag nicht nehmen, und wenn mal etwas nicht so recht klappen will, dann gibt es ja noch immer die Familie, die den Rentnern zur Seite steht. Denn eine Sache bleibt in jedem Alter gleich: Das richtige Umfeld ist bereits die halbe (Lebens-)Miete.

Ein besonderer Geburtstag

100 Jahre wurden diese Woche ebenfalls in der Seniorie St. Zithe in Contern gefeiert. Seit sieben Jahren zählt Maria Eisenbarth-Baltes zu den Bewohnern des Altenheims und durfte sich dementsprechend über zahlreiche Glückwünsche des Personals freuen. Als jüngstes von sieben Kindern kam Maria 1920 in einer Bergarbeiterfamilie zur Welt. Am 5. Oktober 1940 übergaben ihre Eltern die Kaylerin in die liebenden Arme ihres zukünftigen Ehemannes, J. Baptiste Eisenbarth. Mit ihm hatte Maria drei Kinder, von denen zwei leider bereits verschieden sind. Auch ihr Mann starb 1977, sodass Maria fortan alleine im Haus in Lasauvage lebte. Mittlerweile beglücken die Rentnerin insgesamt vier Enkel, fünf Urenkel und sogar eine Ururenkelin, die ihre Großmutter auch im Altenheim regelmäßig besuchen. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr war neben dem Stricken vor allem das Reisen eine große Leidenschaft der gebürtigen Kaylerin. Heute verschlägt es sie zwar nicht mehr in die weite Ferne, doch mithilfe ihres Rollstuhls bleibt Maria auch weiterhin mobil und lebensfroh.

Blumen und viele Worte des Glückwunschs gab es für die Seniorin am vergangenen Montag in der Seniorie St. Zithe in Contern
Blumen und viele Worte des Glückwunschs gab es für die Seniorin am vergangenen Montag in der Seniorie St. Zithe in Contern Foto: Editpress/Anne Lommel

de bouferpapp
29. Februar 2020 - 10.01

Glückwünsche an Herrn Gille. Um so alt zu werden gehört auch eine gehörige Portion Glück. Und deshalb sollte man, in alle Demut, dankbar sein, dass die Erbanlagen und das Schicksal einem ermöglicht haben dieses hohe Alter zu erreichen. Ad multos annos, bei gute Gesundheit!