StandpunktBrasiliens bahnbrechende Lösung für den Impfstoffmangel

Standpunkt / Brasiliens bahnbrechende Lösung für den Impfstoffmangel
 Foto: dpa/Andre Borges

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Die Welthandelsorganisation hätte diese Woche zusammentreten sollen, um einen Vorschlag zu erörtern, der seit einem Jahr im Raum steht: die vorübergehende Freigabe des Patentschutzes auf Pharmazeutika für die Zeit der Pandemie, damit in armen Ländern viele jener Tests, Behandlungen und Impfstoffe hergestellt werden können, die den reichen Ländern in Zeiten der Pandemie zur Verfügung stehen. Wie zur Verdeutlichung der leidvollen Dringlichkeit des Problems wurde die WTO-Konferenz aufgrund des Auftretens der Omikron-Variante verschoben. Diese wurde von Wissenschaftlern in Südafrika entdeckt (obwohl ihr genauer Ursprung unklar bleibt).

Es besteht nahezu Einigkeit darüber, dass die Impfung der gesamten Weltbevölkerung die einzige Möglichkeit ist, die Pandemie zu beenden. Je höher die Durchimpfungsrate, desto weniger Chancen für das Virus gefährliche Mutationen zu entwickeln. Vor seiner raschen Ausbreitung zur weltweit dominierenden Virusvariante wurde Delta zunächst in Indien nachgewiesen, wo weniger als drei Prozent der Bevölkerung geimpft gewesen waren. Heute weist Afrika die weltweit niedrigsten Durchimpfungsraten auf. Lediglich sieben Prozent der Bevölkerung Afrikas sind vollständig immunisiert.

Dass in den ärmeren Ländern nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen, hat einen simplen Grund: Es sind einfach nicht genug Impfdosen für alle da. Spenden haben das Problem nicht gelöst, da kein Land über einen Überschuss in Höhe der benötigten mehreren Milliarden Impfdosen verfügt. Auch die Wohltätigkeit hat versagt. Die Covax- (Covid-19 Vaccine Global Access)Fazilität, ein internationales Konsortium, das versprochen hatte, bis Ende 2021 ärmeren Ländern zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung zu stellen, hat nur 25 Prozent dieser Menge bereitgestellt.

Weltweit werden nicht so viele Impfdosen hergestellt, wie es möglich wäre. Jedes Unternehmen, das in der Lage ist, Impfstoffe herzustellen, sollte das auch tun. Doch obwohl Moderna, Johnson & Johnson und Pfizer/BioNTech für die Entwicklung ihrer Impfstoffe von den Regierungen der USA und Deutschlands bezahlt wurden, sind diese nun nicht bereit, diese Unternehmen zu verpflichten, ihre Technologie Herstellern in anderen Ländern zur Verfügung zu stellen.

Schranken umgehen

Solange diese Regierungen ihre Haltung nicht ändern, werden die erwähnten Unternehmen weiterhin ihre lukrative Monopolmacht ausnutzen, die ihnen im Rahmen des WTO-Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) zugestanden wird, das bei der Gründung der Organisation im Jahr 1995 verabschiedet wurde. Laut WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala sind die Gespräche über den Vorschlag für eine TRIPS-Ausnahmeregelung „festgefahren“. Obwohl die Zahl der reichen Länder, die sich dagegen wehren, schwindet, gibt es immer noch genug Widerstand, um eine Lösung zu vereiteln.

Während die WTO unschlüssig zaudert, hat Brasilien jedoch die Sache selbst in die Hand genommen und eine Möglichkeit eröffnet, einen Weg aus der Krise zu finden. Im April legte der brasilianische Senator Paulo Paim einen Gesetzesentwurf vor, der es dem Land ermöglichen würde, die durch das TRIPS-Abkommen errichteten Schranken zu umgehen. Wie uns der Handelsrechtsexperte Frederick Abbott erklärte, macht sich der Gesetzesvorschlag die Tatsache zunutze, dass „Artikel 73 des TRIPS-Abkommens, der den Schutz von Sicherheitsinteressen regelt, bereits jetzt jeder Regierung die Befugnis einräumt, Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu ergreifen, die als notwendig erachtet werden, darunter auch die Aussetzung der Rechte an geistigem Eigentum“.

Wenn diese Möglichkeit bereits besteht, stellt sich die Frage, warum dann so viele Länder immer noch auf die Erteilung einer offiziellen Genehmigung durch die WTO warten? Die Antwort darauf lautet, dass die reichen Länder seit der Gründung der WTO die Entwicklungsländer stets dafür bestraft haben, wenn diese taten, wozu sie nach den Regeln der Organisation berechtigt sind. Als Südafrika, Brasilien, Indien und Thailand während der HIV/Aids-Krise versuchten, die Monopole auf unerschwingliche antiretrovirale Medikamente aufzuheben, gingen die Vereinigten Staaten und die Europäischen Union gegen sie vor – in manchen Fällen sogar gerichtlich. Diese Vorgehensweise hatte abschreckende Wirkung.

Veto von Bolsonaro

Der derzeitige Vorschlag für eine Aussetzung der Patentrechte würde daher wie ein Versprechen der großen Kinder wirken, die anderen in der Pause nicht zu schikanieren. Der brasilianische Lösungsvorschlag stellt eine weitere Option dar: Die Mobbingopfer könnten ihre Situation selbst in die Hand nehmen. Der neue Gesetzesvorschlag fand Zustimmung im gesamten politischen Spektrum Brasiliens und wurde sowohl von der Abgeordnetenkammer als auch vom Senat mit großer Mehrheit angenommen. Unter anderem sollte mit dem Gesetzesentwurf eine dauerhafte Bestimmung für die Aufhebung von Monopolen auf geistiges Eigentum an jenen zentralen Technologien eingeführt werden, die für die Bewältigung einer Gesundheitskrise (beginnend bei der Covid-19-Pandemie) erforderlich sind. Darüber hinaus wäre der Transfer von Impfstoff-Know-how – so etwas wie eine Herstellungsanleitung – für andere Arzneimittelproduzenten vorgesehen.

Im September unterzeichnete der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro den Entwurf, wodurch dieser in den Rang eines Gesetzes erhoben wurde. Allerdings machte Bolsonaro von seinem Vetorecht Gebrauch, um entscheidende Klauseln zu streichen oder sie überarbeiten zu lassen. Darunter fielen Bestimmungen, die festlegen, wann und wie das Gesetz in Kraft treten würde, und Klauseln, in denen von Pharmaunternehmen verlangt wird, ihr Know-how, ihre Daten und ihr biologisches Material zur Verfügung zu stellen. Einen Monat später empfahl der brasilianische Senat, Bolsonaro aufgrund von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuklagen, weil er in der Pandemie unnötige Verluste an Menschenleben verursacht hatte. Die Anklagepunkte beziehen sich jedoch nicht auf seine Entstellung des Gesetzesvorschlages zur Aussetzung von Patenten – ein Akt, der zu noch mehr unnötigen Todesopfern führen könnte.

Das Gesetz ging zurück in den Senat, der Bolsonaros Veto aufheben kann. Allerdings verpasste man dort die Frist für die Korrektur des Gesetzes und versäumte es anschließend, eine weitere Frist zu setzen. Jetzt gilt es, rasch zu handeln, um die durch Bolsonaros Streichungen entstandene Unsicherheit zu beseitigen und dem Widerstand von Verbänden der pharmazeutischen Industrie aus den USA und Europa standzuhalten, deren führende Vertreter versuchten, dem Gesetz den Garaus zu machen und sogar damit drohten, die Impfstofflieferungen zu unterbrechen, sollte Brasilien diesem Kurs weiter folgen.

Ziel nicht aus den Augen verlieren

Die brasilianischen Gesetzgeber dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Sie legten einen Gesetzesentwurf vor, im Rahmen dessen Arzneimittel-Monopole, die eine Lösung der Pandemie verhindern, aufgehoben werden würden. Daraus können alle ihre Lehren ziehen – sowohl diejenigen, die bei der WTO um eine Aufhebung des Patentschutzes werben als auch Staaten, die dagegen sind. Was für Brasilien gilt, wird auch für die anderen gelten. Hinsichtlich der reichsten Länder der Welt und der ihnen verpflichteten Institutionen bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß sie bereit sind, ihre Glaubwürdigkeit zu opfern, damit die Pharmaunternehmen ihre Monopolgewinne noch ein wenig länger genießen können.

Wir führen einen Zweifrontenkrieg: zum einen gegen Covid-19, zum anderen gegen die Pharmaunternehmen, deren Gewinne von hohen Preisen und Produktionsbeschränkungen abhängen. Früher oder später werden wir – ebenso wie Brasilien – erkennen, dass wir an der einen Front nicht siegen können, ohne auch an der anderen zu gewinnen.

* Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger, Universitätsprofessor an der Columbia University und Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung. Achal Prabhala ist ehemaliger Fellow bei der Shuttleworth Foundation und mittlerweile Koordinator des AccessIBSA-Projekts, das sich in Indien, Brasilien und Südafrika für den Zugang zu Arzneimitteln einsetzt. Felipe Carvalho ist Koordinator der Medikamentenkampagne Access Campaign von Ärzte ohne Grenzen in Brasilien und Lateinamerika.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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