GastbeitragBidens Kartellrechtsrevolutionäre

Gastbeitrag / Bidens Kartellrechtsrevolutionäre
Bei der neuen Kartellrechtsdebatte ist Big Tech der kritische Fokus  Foto: Justin Tallis/AFP

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Angesichts der Ernennung der prominenten Anti-Monopol-Aktivistin Lina Khan zur neuen Vorsitzenden der Federal Trade Commission ist dies ein guter Zeitpunkt, zu überlegen, welchen Einfluss die sogenannten Neo-Brandeisianer auf das US-Kartellrecht haben werden. Khan ist ein führender Kopf dieser Bewegung, und ein weiterer prominenter Exponent, Tim Wu, sitzt inzwischen in Präsident Joe Bidens nationalem Wirtschaftsrat. Die nach einem ehemaligen Richter am US Supreme Court, Louis Brandeis, benannten Neo-Brandeisianer argumentieren, dass das Kartellrecht und seine Durchsetzung zu schwach und ineffektiv seien, und sind offener für eine Aufspaltung von Monopolen als traditionelle Kartellrechtsexperten.

Schon bevor die Neo-Brandeisianer in den USA Prominenz erlangten, gab es dort einen wachsenden Konsens, dass Gerichte und Regulierungsbehörden das Kartellrecht nicht so strikt durchsetzen, wie sie das sollten. Eine lange Phase einer laxen Durchsetzung hat zu von stärkerer Konzentration geprägten Märkten, höheren Verbraucherpreisen und steil gestiegenen Unternehmensgewinnen geführt. Eine Teillösung besteht darin, den Regulierungsbehörden mehr Ressourcen zu verschaffen und die Standards, sie bei der Genehmigung von Unternehmensfusionen anlegen, zu verschärfen. Ein von der Senatorin Amy Klobuchar aus Minnesota eingebrachter Gesetzentwurf sieht genau das vor.

Doch über die Unterstützung für diese simplen Maßnahmen hinaus löst sich der Konsens unter Kartellrechtlern auf. Die Debatte entwickelt sich zu einer zwischen zentristischen und gemäßigt linken Technokraten, die mehr Ressourcen zur Durchsetzung und höhere Standards für Fusionen für ausreichend halten, und den Neo-Brandeisianern, die sehr viel mehr anstreben. (Die politische Rechte scheint sich herauszuhalten und beschwert sich lediglich, die großen Technologiekonzerne (Big Tech) würden die Republikaner diskriminieren.)

Die Technokraten sehen sich der traditionellen Kartellanalyse verpflichtet, die die Vorteile des Wettbewerbs am Markt gegen die Größenvorteile abwägt. Sie sind der Ansicht, dass man es den Unternehmen gestatten sollte, zu wachsen, indem sie überlegene Produkte und Dienstleistungen anbieten, selbst wenn sie auf diese Weise letztlich den Markt beherrschen. Fusionen sollten gestattet sein, solange die dadurch hervorgebrachten Skaleneffekte die wettbewerbsfeindlichen Auswirkungen überwiegen.

Die Neo-Brandeisianer lassen sich von der monopolfeindlichen Stimmung des Gilded Age inspirieren. Den Populisten des späten 19. Jahrhunderts und Progressiven des frühen 20. Jahrhunderts wie Brandeis ging es nicht in erster Linie um die Effizienz und sie differenzierten auch nicht sorgfältig zwischen den Auswirkungen der Monopole auf Preise, Löhne, Wettbewerb und andere wirtschaftliche Variablen. Sie argumentierten, dass die „Räuberbarone“ – Männer wie der Ölmagnat John D. Rockefeller und der Stahlmagnat Andrew Carnegie – und ihre Unternehmen schlicht zu mächtig seien. Ihre politische und wirtschaftliche Macht sei mit einer demokratischen Eigenregierung unvereinbar. Das Kartellrecht sollte dieses Problem lösen.

Der neue Fokus

Bei der neuen Kartellrechtsdebatte ist Big Tech der kritische Fokus. Wenn die Technokraten diesen Sektor betrachten, sehen sie Unternehmen, die überlegene Produkte und Dienstleistungen zu niedrigen Preisen oder sogar kostenlos anbieten. Geschäftspraktiken, die kartellrechtliche Bedenken aufwerfen würden, könnten im Rahmen bestehender Standards gehandhabt werden und sollten nur verurteilt werden, wenn der Nachweis erbracht sei, dass sie dem Anschein zum Trotz die Preise erhöhen. Doch die Neo-Brandeisianer meinen eine Wiederholung der Monopolbildung des Gilded Age zu erkennen und beharren darauf, dass die Nachteile – auch wenn im Rahmen der traditionellen Kartellanalyse nicht erkennbar – trotzdem real seien.

Ein derartiger Nachteil ist die politische Einmischung. Die Monopole verteilen keine Bestechungsgelder an Abgeordnete mehr wie im 19. Jahrhundert, doch übt Big Tech eindeutig erheblichen Einfluss auf die US-Politik aus. Die Demokraten kochen noch immer vor Zorn darüber, dass die Russen Facebook zur Verbreitung von Falschinformationen vor den Wahlen von 2016 nutzten, während sich die Republikaner beschweren, dass Facebook und Twitter Donald Trump auf ihren Plattformen gesperrt haben. Je nach Standpunkt verbreitet YouTube entweder Verschwörungstheorien oder zensiert legitime politisch abweichende Meinungen.

Lina Khan wurde als neue Vorsitzende der Federal Trade Commission vereidigt
Lina Khan wurde als neue Vorsitzende der Federal Trade Commission vereidigt Foto: AFP

Eine weitere Sorge ist die Wahrnehmung mangelnder Fairness. Google liefert Suchergebnisse, die Einträge für Google-eigene Produkte und Dienste umfassen. Der Apple App Store verkauft Apple-Apps, die mit Apps anderer Anbieter konkurrieren. Die Kritiker argumentieren, dass diese und andere Unternehmen die von ihre Plattformen verwendenden Wettbewerbern erhaltenen Daten nutzen, um eigenen Produkten und Diensten einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.

Autonomieverlust

Ein weiteres Problem ist der Autonomieverlust der Verbraucher, der darauf beruht, dass Big Tech von unseren Einkaufsgewohnheiten und Suchverläufen über unsere medizinischen Aufzeichnungen bis hin zu unserer persönlichen Kommunikation alles über uns weiß. Nie zuvor war über so viele Menschen so viel bekannt. In autoritären Ländern werden diese Informationen an die Regierungen weitergegeben. In den USA geschieht dies weniger; dort jedoch werden sie an andere Unternehmen weitergegeben und fallen häufig Hackern und anderen Missetätern in die Hände. Noch schlimmer ist, dass die Technologieunternehmen ihre technische Kompetenz und ihr psychologisches Know-how nutzen, um die Nutzer süchtig zu machen und zu manipulieren.

Und schließlich werden die Big-Tech-Unternehmen als Bedrohung einer vielfältigen, texturierten Internetwirtschaft angesehen. Viele Menschen beklagen den Verlust an originellen Online-Angeboten, die durch die langweiligen Monokulturen von Facebook, Google und Apple verdrängt wurden. Die Plötzlichkeit dieses Wandels hilft, zu erklären, warum viele Menschen einst so aufgebracht waren, als in vielen kleinen Städten die zentralen Einkaufsbezirke durch einen neu aufmachenden Walmart zerstört wurden. Zwar sanken die Preise, doch ging zugleich ein unverwechselbares, häufig beliebtes lokales wirtschaftliches Ökosystem verloren. Heute geben viele Städte große Mengen an Steuergeldern zur Revitalisierung der Innenstädte aus und verwenden diese öffentlichen Gelder, um Angebote wiederherzustellen, die die Bevölkerung schätzte und die der Markt zerstört hat.

Traditionelle Ökonomen argumentieren vor diesem Hintergrund, dass das Kartellrecht – ein technischer Bereich des Rechts, der sich mit wirtschaftlicher Effizienz befasst – nicht die Lösung sei. Bedrohungen gegenüber Kleinstädten oder wichtigen demokratischen und wirtschaftlichen Werten ließe sich besser über Gesetze zur Wahlkampffinanzierung, das Bau- und Planungsrecht, Arbeitsschutzverordnungen usw. begegnen. Diese Sicht ist in vieler Hinsicht vernünftig: Wenn wir das Kartellrecht durch eine Urteilsfindung ersetzen, die in Bezug auf das Handeln eines großen Unternehmens alles und jedes in Betracht zieht, geraten Regulierungsbehörden und Gerichte ins Schwimmen und es spielen in die Entscheidungen dann politische Überlegungen hinein. Es wäre besser, den Pathologien des Technologiemarktes durch wohlkonzipierte Gesetzesreformen zu begegnen.

Die Neo-Brandeisianer freilich würden widersprechen, dass die großen Konzerne ihre politische Macht nutzen können, um eben jene Reformen zu verhindern. Schließlich haben die Technologieriesen bereits gegen den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz opponiert und Regeln zur „Corporate Speech“ werden angesichts der Präzedenzentscheidungen des aktuellen Obersten Gerichtshofes, die diese schützen, nirgendwo hinführen.

Man erinnere sich: Die Hauptsorge über die Monopole im 19. Jahrhundert war, dass sie zu viel politische Macht ausübten. Wenn man sie auf eine angemessene Größe zurechtstutzt, dann tun sie das womöglich nicht, was der Demokratie guttäte. Das Kartellrecht ist im US-Recht das einzig vorhandene Instrument, um ein großes, übermächtiges Unternehmen in eine Anzahl kleinerer Unternehmen aufzuspalten, die nicht derart mächtig sind.

* Eric Posner ist Professor an der Law School der University of Chicago und der Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt „The Demagogue’s Playbook: The Battle for American Democracy from the Founders to Trump“.

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

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