Interview„Belarus wird ein Teil Russlands“: Der Politologe Pawel Usow über die Entwicklungen in Belarus

Interview / „Belarus wird ein Teil Russlands“: Der Politologe Pawel Usow über die Entwicklungen in Belarus
Der russische Präsident Wladimir Putin und der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko vor einigen Tagen auf einer Jacht im Schwarzen Meer. Putin will offenbar den mit dem kleinen Nachbar vereinbarten Unionsstaat umsetzen. Foto: Sergei Ilyin/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

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Hat sich der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko mit der Entführung der Ryanair-Maschine außenpolitisch übernommen und was hat der russische Präsident Wladimir Putin mit dem kleinen Nachbar im Westen vor? Wir sprachen darüber mit dem belarussischen Politologen Pawel Usow.

Tageblatt: Warum hat Alexander Lukaschenko die Ryanair-Maschine abfangen lassen? Er muss doch gewusst haben, dass das eine harte Reaktion des Westens zur Folge hat.

Pawel Usow: Er war sich sicher, dass Europa nicht harsch reagieren wird. Er dachte, dass sein Verhalten ungestraft bleiben wird. Er hat sich an der europäischen Politik in der Ukraine orientiert. Auf die russische Krim-Annexion, den Krieg im Donbass und den Abschuss der MH17 folgten schwache Reaktionen im Vergleich zu dem Vorgefallenen. Daher dachte er, er sei Herr der Lage.

Und jetzt?

Für die Staatsmacht sind die neuen Sanktionen, darunter das Landeverbot für Belavia in europäischen Städten, ein Schock. Aus diesem Grund hat man der Öffentlichkeit nach dem Vorfall alle möglichen Erklärungen aufgetischt.

Lukaschenko hat schon vor Wochen zu einem neuen Schlag gegen die Opposition ausgeholt. Hat die Flugzeugentführung auch eine innere Logik?

Die Staatsmacht ging davon aus, dass sie im Inneren die Lage komplett kontrolliert und daher der Schritt zur Tätigkeit im Ausland gekommen sei. Das begann bereits mit der Festnahme zweier Oppositioneller in Moskau im April mit russischer Hilfe. Ihnen wird bekanntlich ein Anschlagsversuch auf Lukaschenko vorgeworfen. Nach dieser für ihn erfolgreichen Aktion setzte Lukaschenko weiter auf Stärke.

Was droht dem verhafteten Blogger Roman Protassewitsch?

Man wird ihn wohl zu einem Geständnis zwingen. Die Aussage wird man zur Rechtfertigung weiterer politischer Säuberungen und zur Verstärkung des Terrors benutzen.

Was die Angst betrifft: Wenn Diktatoren sich nicht fürchten würden, wären sie keine Diktatoren

Agiert Lukaschenko nun aus der Position von Stärke oder Schwäche?

Eine schwierige Frage. Einerseits demonstriert er Macht. Andererseits ist diese Machtdemonstration keine adäquate Reaktion auf die Lage. Die politische Krise seit der Präsidentschaftskampagne im Vorjahr ist ja kein Ergebnis der Aktivität der Opposition – sondern Ergebnis der idiotischen Entscheidungen der Staatsführung, die sich in eine Sackgasse manövriert hat. Jede weitere Handlung vestärkt nur die Krise. Lukaschenko muss immer weitergehen, er muss demonstrieren, dass er keine Angst hat, dass jeder noch so absurde Befehl ausgeführt wird, dass das System sich loyal verhält. Was die Angst betrifft: Wenn Diktatoren sich nicht fürchten würden, wären sie keine Diktatoren.

Wie wird er sich halten können angesichts der Konfrontation mit dem Westen?

Die einzige Option ist es nun, sich auf Russland zu stützen. Eine Rückkehr zu den guten Beziehungen mit dem Westen, wie sie seit 2015 herrschten, scheint nicht möglich. Erinnern wir uns: Die Ukraine-Krise „rettete“ Lukaschenko damals – die belarussische Diktatur erschien plötzlich akzeptabel. Jetzt ist es wieder umgekehrt: Sogar Putin wirkt zivilisiert im Vergleich zu Lukaschenko – und Joe Biden hat es eilig, mit ihm ins Gespräch zu kommen, was meines Erachtens nicht angemessen ist. Ist der Fall Nawalny etwa schon vergessen?

Die Verhandlungen zwischen Putin und Lukaschenko über die Integration beider Staaten finden immer öfter statt. Was will der Kreml genau?

Moskau wird Druck machen, um ein maximal günstiges Ergebnis zu bekommen. Sehr wahrscheinlich ist die Errichtung von Militärbasen oder gar die Stationierung von Iskander-Raketen auf belarussischem Territorium. Wenn sich die Möglichkeit bietet, die geopolitische Kontrolle über Belarus zu erlangen, greift Moskau zu. So kann es den Druck auf den Westen erhöhen.

Abseits der Geopolitik – interessieren auch ökonomische Aspekte?

Kurz gesagt geht es um die Umwandlung der Republik Belarus zu einer Art belarussischen sowjetischen sozialistischen Republik. Belarus wird ein Teil Russlands, verliert seine Souveränität und eigenständige Außenpolitik, behält aber einige andere Vollmachten. Im Prinzip sind alle Aspekte bereits im Vertrag über den Unionsstaat von 1999 festgeschrieben, dessen Einlösung Moskau fordert: gemeinsames Währungs- und Bankensystem, Vereinigung der Sicherheitsstrukturen, perspektivisch die Gründung einer gemeinsamen Armee.

Wenn sich die Möglichkeit bietet, die geopolitische Kontrolle über Belarus zu erlangen, greift Moskau zu

Wann erwarten Sie den Schritt?

Putin hält derzeit noch die Instabilität in Belarus ab. Belarus soll nicht zum Problem für Russland werden. Meiner Einschätzung nach könnte die Übernahme bis Jahresende passieren. Natürlich wird man versuchen, das als friedlichen Integrationsprozess darzustellen, als Erfüllung des Willens des belarussischen Volkes.

Was wäre die öffentliche Reaktion?

Schwer zu sagen. In Belarus gibt es Menschen, die eine Integration begrüßen würden – 50 Prozent würden sich wohl finden. Sogar in der Protestbewegung gibt es Menschen, die Putin statt Lukaschenko bevorzugen nach dem Motto: Alles, nur nicht Lukaschenko! Mit Putin regeln wir das dann schon!

Ist es nicht paradox, dass Moskau einen Diktator stützt und dann noch Vorteil aus dessen Entfernung ziehen könnte?

Natürlich. Es spricht von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein, Resultat der langen Russifizierung. Die nationale Selbstidentifikation der Belarussen hat erst in den letzten Jahren begonnen und wurde dank der Krise verstärkt. Auch in der Ukraine wirkte der Krieg mit Russland als Katalysator dieser Bewusstseinstransformation. So tragisch es ist: Trauma, Tragödien und Tod beschleunigen die Nationswerdung. Auch mit den Belarussen passiert das. Etwa die zahlreichen Zusammenschlüsse der Diaspora: Früher gab es keine organisierte Diaspora im Ausland. Jetzt gibt es sie sogar in Brasilien und Japan.

Welche Optionen hat die Opposition im Ausland nun?

Die Opposition sollte sich konsoldieren und eine Exilregierung gründen. Sie muss in ihre Kader investieren und Reformpolitiken ausarbeiten. Früher oder später wird das Regime zusammenbrechen. Es wird nötig sein, schnell die Geschäfte zu übernehmen, damit kein Chaos entsteht.

Und die EU?

Man sollte die Sanktionen ausdehnen auf jene Oligarchen, die das Lukaschenko-Regime unterstützen, sowie auf jene, die das Regime aufrechterhalten: Richter, Staatsanwälte, Propagandisten usw. Auch ein Signal an die Belarussen, die Geisel Lukaschenkos geworden sind, wäre wichtig. Die EU könnte in einem unilateralen Schritt die Visa-Pflicht für Belarussen aussetzen. Es wäre eine großartige Geste und hätte sogar mehr ideologische Wirkung als harte Sanktionen.

Der belarussische Politologe Pawel Usow
Der belarussische Politologe Pawel Usow Foto: privat

Zur Person

Pawel Usow ist Politologe und Leiter des „Zentrums politischer Analyse und Prognose“. Der 46-jährige Belarusse emigrierte 2006 nach Polen und lebt in Warschau. Für den belarussischen Oppositionssender Belsat und anderen Medien kommentiert er regelmäßig die politische Lage in seiner Heimat.

HTK
3. Juni 2021 - 20.06

Fehlt noch Putins Harlekin aus Syrien.Dann ist das Trio Infernal perfekt.