LondonBeim Lügen erwischt, von der Fraktion verlassen – wie lange kann sich Boris Johnson noch an der Macht halten?

London / Beim Lügen erwischt, von der Fraktion verlassen – wie lange kann sich Boris Johnson noch an der Macht halten?
Boris Johnson im Parlament: Dem britischen Premier laufen die Minister davon Foto: AFP/Jessica Taylor

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Boris Johnson wurde beim Lügen erwischt. Mal wieder. Doch dieses Mal verlassen ihn wichtige Minister. Götterdämmerung in London?

Boris Johnson und seine konservative Regierung stecken nach dem Rücktritt zweier hochkarätiger Minister am Dienstagabend wieder einmal tief im Schlamassel. Der Begräbnisstimmung versucht der 58-Jährige an diesem Mittwochmittag mit einer lustigen Bemerkung beizukommen: „Ich erwarte“, sagt der Regierungschef auf Abruf, „heute auch weitere solcher Treffen zu haben“.

Seiner hinter ihm sitzenden Fraktion ist erkennbar nicht nach Scherzen zumute. Mit steinerner Miene verfolgen die konservativen Hinterbänkler, wie Oppositionsführer Keir Starmer zunächst sein Gegenüber für dessen Halbwahrheiten und ganze Lügen auseinandernimmt und anschließend unter dem Gejohle seiner Labour-Fraktion auf dem Kabinett herumtrampelt. Der „Brigade von Leichtgewichten“, der „Z-Liste von Abnickern“ fehle der Mumm, den Chef zur Demission zu zwingen; die Torys seien eine „korrumpierte Partei, die das Unvertretbare verteidigt“.

Welle an Rücktritten 

Mit sehr viel vornehmeren Worten hatten tags zuvor zwei Kabinettsschwergewichte ihre Demission begründet. Die Briten, schrieb Finanzminister Rishi Sunak in seiner verhüllten Kritik an Johnson, erwarteten zu Recht „korrektes, kompetentes und ernsthaftes Regierungshandeln“. Weil er diese Werte hochhalten wolle, müsse er zurücktreten. Gesundheitsminister Sajid Javid wurde noch deutlicher: Die Konservativen hätten stets kompetent und im nationalen Interesse regiert. „Leider billigt uns die Öffentlichkeit mittlerweile weder das eine noch das andere zu.“ Das liege am Ton und den Werten des Parteichefs: „Dies hat Auswirkungen auf Ihre Kollegen, Ihre Partei und letztlich das Land.“

Nicht nur Javid und Sunak scheinen zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die dauernden Unredlichkeiten und glatten Lügen aus der Downing Street 10 dem Land und der Partei schaden. Am Dienstag und Mittwoch reichten auch eine Reihe jüngerer und nachgeordneter Regierungsmitglieder ihre Rücktritte ein. Abends wollte das einflussreiche Hinterbänkler-Komitee 1922 seinen Vorstand neu bestimmen, eine Mehrheit von Johnson-Kritikern galt als gesichert. Diese könnten die Fraktionsstatuten ändern und eine zweite Vertrauensabstimmung durchsetzen, die eigentlich bis kommenden Juni ausgeschlossen ist.

Beim ersten Anlauf vor Monatsfrist hatte Johnson noch knapp mit 59:41 Prozent gesiegt und anschließend die Parole „business as usual“ ausgegeben. Vor zwei Wochen mussten die Torys bei zwei Nachwahlen verheerende Niederlagen einstecken, die darauf hindeuteten, dass sie das Vertrauen sowohl von Stammwählern wie von erst kürzlich wegen des EU-Austritts hinzugestoßenen Anhängern verloren haben. Partei-Chairman Oliver Dowden schmiss deshalb den Bettel hin, was aber bei seinen Kabinettskolleginnen keine Folgen zeitigte.

„Business as usual“ wird immer schwieriger für Boris Johnson
„Business as usual“ wird immer schwieriger für Boris Johnson Foto: AFP/Dan Kitwood

Die jüngste Affäre dreht sich um den stellvertretenden Fraktionsgeschäftsführer (Deputy Chief Whip) Christopher Pincher. Dieser hatte völlig betrunken im konservativen „Carlton Club“ junge Männer begrabscht – kein Einzelfall, wie sich herausstellte. Wie aber konnte Johnson ausgerechnet den notorisch übergriffigen Politiker in ein Regierungsamt berufen, zu dem auch die Behandlung heikler Beschwerden gegen konservative Abgeordnete gehört?

Der Premierminister habe von Pinchers Ruf nichts gewusst, beteuerten dessen Sprecher übers Wochenende. Daraufhin meldete sich am Dienstag früh der frühere Amtschef des Foreign Office öffentlich zu Wort: Während Pinchers kurzer Tätigkeit als politischer Außen-Staatssekretär sei eine Beschwerde gegen ihn geprüft und für korrekt befunden worden, wovon auch Johnson Kenntnis hatte.

Der Ertappte ging mit dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit um wie zuvor mit Partygate, den Lobbying-Skandalen und seiner Missachtung des Ehrenkodex für Regierungsmitglieder: Er entschuldigte sich und verwies im Unterhaus viermal auf das „kolossale Mandat“, das ihm die Briten bei der Wahl vor zweieinhalb Jahren erteilt hätten. Bereits am Dienstagabend waren die verwaisten Kabinettsposten wieder besetzt; das wichtige Amt des Schatzkanzlers musste der geschwächte Chef dem ehrgeizigen Nadhim Zahawi zuerkennen, um dessen angedrohten Rücktritt abzuwenden.

„Das großartigste Land“

Zahawi, 55, ist das dritte Einwandererkind in Folge auf dem zweitwichtigsten Posten der britischen Regierung. In Bagdad geboren, kam das Kind kurdischer Gegner des Regimes von Saddam Hussein mit elf Jahren auf die Insel, „ohne ein Wort Englisch zu sprechen“, wie er gern betont. Jetzt repräsentiere er William Shakespeares Wahlkreis Stratford-upon-Avon: „Dies ist das großartigste Land der Welt.“

Außer patriotischen Parolen bringt der neue Schatzkanzler auch reichlich geschäftliche Erfahrung mit. Vor seiner Wahl ins Unterhaus leitete er fünf Jahre lang den Marktforscher YouGov, gemeinsam mit seiner Frau unterhält er eine Reitschule. Peinlicherweise musste Zahawi vor zehn Jahren mehrere tausend Pfund Parlamentsspesen zurückzahlen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er seinen Pferdestall auf Steuerzahlerkosten geheizt hatte. In der Regierung war er zuletzt Staatssekretär für Covid-Impfungen und Bildungsminister, aber vor allem verlässlicher Apologet Johnsons.

Im Unterhaus erhielt der frühere Finanz- und zuletzt Gesundheitsminister Javid unmittelbar nach Johnsons Fragestunde die Gelegenheit, die persönlichen Gründe für seinen Rücktritt darzulegen. Der 52-Jährige sprach von Anstand und Integrität als Grundlagen einer Demokratie. Er selbst habe auf dem Trapezseil lange die Balance zwischen seiner Integrität und der Loyalität zum Premierminister zu wahren versucht, immer wieder den Beteuerungen aus der Downing Street Glauben geschenkt. „Aber jetzt reicht es“ (enough is enough). An seine früheren Kabinettskolleginnen gewandt, sagte der 52-Jährige: „Auch Nichtstun ist eine aktive Entscheidung.“