MitfahrgelegenheitBei den „Tandems de la vue“ können Blinde Rad fahren

Mitfahrgelegenheit / Bei den „Tandems de la vue“ können Blinde Rad fahren
Der Pilot Franck Kermoal und sein blinder Copilot Claude Keup Foto: Editpress/Julien Garroy

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Seit vier Jahren besteht die Vereinigung „Les tandems de la vue“. Zweck der Asbl ist es, Blinden und Sehbehinderten die Möglichkeit zum Radfahren zu geben.

Ein Gefühl beschreiben ist immer schwierig, da jeder sich etwas anderes darunter vorstellen kann. Wie ist es, als Blinder mit auf einem Tandem zu fahren, und sich dabei auf den Piloten verlassen zu müssen? Der einfachste Weg, eine Antwort zu finden, ist, es selbst auszuprobieren. „Der große Unterschied zu normalem Tandem fahren ist wohl die Bedeutung der Kommunikation bei der Fahrt“, erklärt Lex Schroeder, Vizepräsident der Vereinigung „Les tandems de la vue“.

Claude Keup, einer von fünf Blinden, die regelmäßig als Copiloten an den Ausflügen teilnehmen, bestätigt: „Während der Fahrt wird viel miteinander geredet, das ist sehr wichtig.“

Da diese einfache Erklärung nicht die direkte Erfahrung ersetzen kann, werden Journalist und Fotograf kurzerhand gebeten, sich mit verbundenen Augen ein paar Meter herumfahren zu lassen. Mit einer – in Covid-Zeiten stets griffbereiten – Atemschutzmaske als Augenbinde merke ich schnell: Ohne die Anweisungen des Vordermanns wäre schon der Start kompliziert. „Auf drei geht’s los: eins, zwei, und …“, sagt Franck Kermoal, Sekretär der Vereinigung und mein Pilot. Um problemlos vom Fleck zu kommen, ist es wichtig, dass beide Fahrer gleichzeitig in die Pedale treten. Für Sehende stellt sich die Frage überhaupt nicht, da sie sehen, was der Vordermann tut; für Blinde gibt es nur die Stimme des Piloten, auf die sie sich verlassen müssen.

Mit dem Start ist es aber noch nicht getan. „Ich werde jetzt eine scharfe Linkskurve drehen, bitte nicht in die Pedale treten“, höre ich Kermoal. Ich lausche konzentriert: bloß nichts falsch machen, bloß keine Anweisung verpassen. „Der Pilot muss dem Passagier z.B. auch sagen, wenn sich ein Hubbel oder ein Schlagloch vor ihnen in der Straße befindet, wann gebremst wird, und so weiter“, erklärt Kermoal.

Mehr als nur Rad fahren

Für die Mitglieder von „Les tandems de la vue“ geht es aber nicht nur ums Radfahren. Claude Keup sagt, er sei auch wegen der guten Atmosphäre dabei. „Wir sind eine Gruppe von Freunden, die auch sonst Sachen zusammen unternimmt.“ Um die Familienmitglieder aller Fahrer mit einzubinden, wird ab und zu zusammen gegessen oder man trifft sich zu Spaziergängen. Wie Patrizia Lalli, Vorstandsmitglied, erklärt, ist es wichtig, dass die Familienangehörigen der Blinden sehen, wie diese trotz ihrer Sehschwäche Spaß am Leben haben.

Gegründet wurde die Vereinigung 2017 mit dem Ziel, Blinden und Sehbehinderten das Radfahren zu ermöglichen. „Wir waren eine kleine Gruppe von Freunden, die zusammen Rad fuhren“, erzählt Kermoal. Er und Lex Schroeder unternehmen bereits seit 1989 gemeinsame Radtouren. Sie wollten nach einiger Zeit eine formellere Organisation. Im Radverband seien sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen worden, da die FSCL von jedem Club verlangt, mindestens einmal im Jahr an einem offiziellen Wettbewerb teilzunehmen. Da sie das aber nicht wollten, haben sie sich entschlossen, etwas völlig anderes zu tun.

Einer der ersten Nichtsehenden in der Gruppe war Claude Keup. Er hatte schon vorher Erfahrung mit Tandemfahren, doch dabei sei er stets auf einen Bekannten angewiesen gewesen. Als dieser nicht mehr zur Verfügung stand, war er froh, die „Tandems de la vue“ gefunden zu haben. Der Verein bietet ihm jede Woche, von März bis Herbst, einen Ausflug an. Heute sind es fünf Nichtsehende, die regelmäßig mitmachen. Die Inklusivität spiegelt sich aber auch im Alter der aktiven Mitglieder wider: Der Jüngste ist 25 Jahre alt, der Älteste 67.

Nicht jeder kann, der will

Jeder, der möchte, kann sich bei der Vereinigung melden. Sehende, die sich als Piloten melden, werden natürlich nicht sofort aufs Tandem mit Passagier gelassen. Jeder angehende Pilot erhält erst eine Ausbildung. Erstens müssen sie sich ein Gefühl für das Tandem aneignen. Auf einer kleinen Teststrecke in Bettemburg, wo der Club seine Fahrräder untergebracht hat, wird auf einem breiten Radweg ein kleiner Parcours mit Hütchen vorbereitet. Die Kandidaten müssen diesen Parcours zuerst allein auf dem Tandem, und dann mit einem Passagier bewältigen. „Wir hatten kürzlich einen Kandidaten, der auf unserer kleinen Teststrecke hingefallen ist. Es hat sich herausgestellt, dass er Gleichgewichtsprobleme hat. Als Pilot war er damit leider nicht geeignet.“ Bis dato wurden rund 20 Fahrer ausgebildet.

Interessierten Radneulingen wird geraten, im März, zum Beginn der Saison, anzufangen, um ihre Kondition langsam aufzubauen. Mitten in der Saison anzufangen, sei für Neulinge etwas schwierig, meint Franck Kermoal.

Bei den wöchentlichen Ausflügen fahren stets Solofahrer mit, die die Gruppe zusätzlich vor dem Verkehr „schützen“. „Kommen wir an eine Kreuzung, halte ich den Verkehr aus den Seitenstraßen an. Das ist an sich zwar nicht korrekt“, sagt Schroeder, „aber es ist sicherer, wenn die ganze Gruppe zusammen fährt. Es gibt in der Regel auch keine Probleme mit anderen Verkehrsteilnehmern. Einmal hat sich eine Autofahrerin fürchterlich aufgeregt, als sie angehalten wurde. Ich ging zu ihr, erklärte die Situation – und da hat sie sich sofort entschuldigt.“

Sponsoren sprangen ab

Die Tandems wurden auf die Bedürfnisse der Blinden angepasst: Die hinteren Lenker sind kürzer; auch benutze man spezielle Klickpedale, wo die Fahrradschuhe einrasten und im Notfall, ähnlich einer Ski-Bindung, sich automatisch ausklinken. „Diese Klinken mussten wir auf beiden Seiten der Pedale anbringen, bei den ersten Modellen hatten wir sie standardmäßig an einer Seite fixiert, doch die Blinden hatten Mühe, während der Fahrt die Füße wieder einzuklinken, wenn sie sich einmal gelöst hatten“, erklärt Kermoal.

Neun Tandems besitzt der Club; kosteten die beiden ersten Fahrräder noch um die 3.500 Euro das Stück, so müssen für die aktuellen Modelle „nackt“ um die 6.000 Euro berappt werden. Laut Kermoal ist das noch kostengünstig: „Es gibt sehr wenige Hersteller, die noch Tandems machen, und die sind oft noch teurer. Unsere aktuellen Modelle stammen aus der Tschechischen Republik.“

Finanziert wird der Club zum Teil über Sponsoren. „Leider ist die Hälfte davon während des Covid-Jahrs abgesprungen, und wir hoffen stark, dass wir sie wiedergewinnen können.“ Weggefallen ist im vorigen Jahr auch ihr „Wintertraining“: Die Vereinigung besitzt mehrere Spinningräder, doch keinen Platz mehr, wo sie darauf trainieren können.

Am kommenden 29. August organisiert der Verein, unter der Patenschaft des Cessinger Radsportclubs SaF Zéisseng, die Tour der „Tandems de la vue“. Einschreibung und Abfahrt bei der Cessinger Schule (rue de Cessange). Gestartet werden kann zwischen 8.00 und 10.30 Uhr. Zur Auswahl stehen vier Strecken über 25, 65, 80 und 110 Kilometer. Lizenzierte Radfahrer zahlen 5 Euro, Nicht-Lizenzierte 6 Euro. Kinder und Jugendliche bis 14 Jahren fahren umsonst mit.

Infos: www.lestandemsdelavue.lu