Interview / „Autos ohne Fenster und Türen“: Deutschlehrerin Valeria Vorobiova über den Alltag in der Ukraine
Valeria Vorobiova lebt in Saporischschja, im Süden der Ukraine. Vom Krieg blieb ihre Stadt bislang größtenteils verschont. Doch die 22-Jährige weiß, wie gefährlich es in ihrem Land geworden ist. Weggehen will sie trotzdem nicht.
Wie ist die Lage zurzeit in Ihrer Stadt?
Valeria Vorobiova: Im Allgemeinen ruhig. Auch wenn manchmal die Raketen fliegen. Es bleibt gefährlich, aber nicht so wie in Charkiw etwa oder Kiew. Zwar haben wir Angst, dass eine der Raketen unser Haus treffen könnte, aber andererseits versuchen die Menschen in unserer Stadt alles, um zu einem normalen Leben zurückzukehren. Man geht spazieren, man sieht ein Lächeln auf den Gesichtern, man trifft sich … Das freut mich, denn es motiviert, weiterzuleben und nicht in Traurigkeit zu versinken.
Saporischschja liegt in der südlichen Ukraine, unweit des aktuellen Kriegsschauplatzes, etwas mehr als 200 Kilometer von Mariupol entfernt. Inzwischen hat sich Ihre Stadt zu einem Zentrum für Flüchtlinge entwickelt, die dort auch medizinisch betreut werden. Was bekommen Sie davon mit?
Ja, genauso ist es. In Saporischschja kommen zurzeit viele Flüchtlinge aus Mariupol an, mieten Wohnungen und werden mit Lebensmitteln oder Medikamenten versorgt. Manche finden in Saporischschja auch kostenlos eine Unterkunft. Uns gehört beispielsweise ein leer stehendes Haus, das wir einer anderen Familie aus Polohy zur Verfügung stellen, die dort frei wohnen darf. Das macht uns nichts aus. Im Gegenteil, wir sind froh, dass wir etwas Gutes tun konnten. Der Krieg hat die Menschen in der Ukraine wirklich vereint. Alle versuchen nach Möglichkeit, einander zu helfen und das Richtige zu tun. Und das ist so schön. Noch nie haben wir so große Hilfe und Unterstützung erfahren wie jetzt. Ich habe die Autos aus Mariupol gesehen. Autos, auf denen groß „Kinder“ geschrieben steht. Autos ohne Fenster und Türen. Ein schrecklicher Anblick, wenn man bedenkt, dass die Kinder hätten verletzt werden können oder gar sterben. Aber das scheint auf der gegnerischen Seite niemanden gestört zu haben.
Sie arbeiten als Deutschlehrerin und unterrichten teilweise online. Unter Ihren Schüler sind auch Russen. Was denken die über den Krieg?
Ich arbeite an einer Sprachschule, die mir die Studierenden zuteilt. Und da ist es im Grunde egal, aus welchem Land man kommt. Ich habe auch schon vor dem Krieg mit diesen Menschen gearbeitet und bei den Russen, mit denen ich arbeite, handelt es sich in der Regel um anständige Menschen, die mitleiden. Ich bekomme jeden Tag Nachrichten von Leuten, die wissen wollen, was geschieht und ob es mir gut geht. Sie sagen mir, dass sie der russischen Regierung nicht glauben und dass sie der Ukraine beistehen. Dass sie an uns glauben. Slawa Ukrajini usw. Natürlich sind noch lang nicht alle Russen so. Sie sind die Ausnahme.
Wie erleben Sie persönlich diesen Krieg?
Ich habe vor Kurzem damit begonnen, Kindern in der Ukraine kostenlos Unterricht zu geben, da ich sehe, wie sie der Krieg psychisch belastet. Sie brauchen jetzt eine Beschäftigung und die Möglichkeit, etwas zu lernen. Da ist Deutsch-Unterricht eine ganz gute Ablenkung. Das ist nichts Bedeutendes, aber immerhin etwas. Ich habe außerdem ein grammatikalisches Nachschlagbuch für Russischsprechende verfasst sowie ein „Harry Potter“-Lernbuch, das den Film, in zehn Sequenzen eingeteilt, nach Wortschatz und Grammatik analysiert.
Die Menschen wollen die Ukraine nicht verlassen, da sie ihr Zuhause ist – aber viele sind nun mal dazu gezwungen
Haben Sie eigentlich mal daran gedacht, wegzugehen?
Meine Mutter schon. Aber mein Vater darf als Wehrpflichtiger das Land nicht verlassen, wie alle Männer bis 65. Ich habe auch einen Freund. Er ist 30 und darf ebenfalls nicht weg. Ich persönlich könnte meine Stadt gar nicht im Stich lassen, obwohl mir bewusst ist, dass ich in der jetzigen Situation keine große Hilfe darstelle. Ich fühle mich insgesamt ruhiger, wenn ich zu Hause bin. Meine Mutter würde am liebsten meine kleine Schwester davor bewahren, all das hier mit ansehen zu müssen. Aber selbst sie will das Haus nicht aufgeben und so ergeht es den meisten. Die Menschen wollen die Ukraine nicht verlassen, da sie ihr Zuhause ist, aber viele sind nun mal dazu gezwungen, darunter viele Frauen mit Kindern, die ihre Männer, Väter oder Brüder zurücklassen müssen. Hoffentlich muss ich in Zukunft die Stadt nicht selbst verlassen! Hoffentlich wird es weiter so ruhig bleiben! Aber leider gibt es keine hundertprozentige Sicherheit.
Was waren Ihre Pläne vor dem Krieg?
Vor dem Krieg wollte ich vor allem reisen. In erster Linie nach Deutschland und in die anderen deutschsprachigen Länder. Ich hatte bis dahin nur einige wenige Städte in der Ukraine besucht. Jetzt aber bin ich mir sicher, dass ich nach dem Krieg zuerst die Ukraine bereisen möchte. Dass ich diese wunderschönen Orte sehen möchte. Und erst danach stehen Deutschland, Frankreich, Italien und die Schweiz an. Ich möchte jetzt mein Land, meine Heimat entdecken.
Worüber reden Sie und Ihre Freunde untereinander?
Na ja, im ukrainischen Fernsehen gibt es auch Propaganda, die uns vorschreibt, dass wir Russland hassen sollen, Russland unser Feind ist und so weiter. Daran glauben nicht wenige junge Menschen und darüber wird oft auch stundenlang diskutiert. Es gibt Telegram-Chats, in denen wir uns unterhalten, aber oft geht es dort nur um Politik, um Russland und unseren Präsidenten. Mich irritiert das. Ehrlich gesagt, will ich über Politik gar nicht reden. Mir gefällt nicht, wie die Atmosphäre in unserem Land so einseitig geworden ist. Ich ertrage diese ganzen Diskussionen nicht. Ich hoffe einfach, dass der Krieg in der Ukraine bald endet und wir weiterhin in unserem wunderschönen Land glücklich leben dürfen und unser Land noch großartiger und schöner wird als jetzt. Daran glauben wir und darauf hoffen wir.
* Frédéric Braun, geboren 1984, lebt als freier Autor und Journalist in Luxemburg. Zu seinen jüngsten Arbeiten gehört die Sendung „Land a Leit“ bei Radio 100,7. Für den Band „Pol Aschman“ der städtischen Photothek schrieb er den Begleittext. Braun ist Preisträger des „Amnesty Mediepräis“.
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