Zunächst waren es nur sporadische Vorfälle im Park des CIPA „Grand-Duc Jean“ in Düdelingen: ein Sturzflug hier, eine Blitzattacke dort. Die Betroffenen waren erschrocken, die Verantwortlichen auf der Hut. Von einer imposanten Gestalt ging nach wenigen Wochen die Rede, die Senioren erschreckt und Haustiere terrorisiert. Sie habe es besonders auf kleine Hunde abgesehen und auf Kopfbedeckungen der Besucher, wie in der Nachbarschaft des Seniorenheims hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde.
Aushänge im Empfangsbereich des CIPA versuchten auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die im Park auf die Bewohner lauerten. Es wurden Fotos vom Übeltäter veröffentlicht und Warnungen ausgesprochen. Den Spaziergängern wurde dringend davon abgeraten, alleine durch den Park zu spazieren. Egal zu welcher Tageszeit.
Als sich im Sommer letzten Jahres die Zwischenfälle häuften, wurden die Behörden eingeschaltet. Doch der Angreifer war schlau: Nie schlug er zweimal zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu. Manchmal vergingen Tage zwischen den vereinzelten Attacken. An anderen Tagen wurde er von Bewohnern dabei ertappt, wie er das Geschehen im Park aus sicherer Entfernung beobachtete. Gegen Fallen war er immun: Immer wenn Gefahr im Verzug war, machte er sich davon.
Thomas, so der Name des Übeltäters, hat sich in den letzten zwei Jahren einen derartigen Ruf erarbeitet, dass man fast schon von einer lokalen Berühmtheit sprechen könnte. Dabei handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes nur um einen „komischen Vogel“. Denn Thomas ist ein verhaltensgestörter Rotmilan, der den Park in den letzten Jahren zu seinem Revier erkoren hatte.
Kein gewöhnlicher Zeitgenosse
Der Greifvogel wurde vor Jahren mit drei anderen Artgenossen aus einer Gefangenschaft gerettet und in der Pflegestation für Wildtiere in Düdelingen untergebracht. Dort wurden die Rotmilane wieder aufgepäppelt und auf ein Leben in freier Wildbahn vorbereitet. Ziel sei es gewesen, die vier Vögel wieder auszuwildern. Das habe allerdings nicht geklappt, wie eine Ornithologin bei einem früheren Gespräch mit dem Tageblatt bereits erklärte.
Drei der vier Rotmilane seien unverzüglich wieder in der Pflegestation für Wildtiere aufgetaucht. „Nur Thomas wollte seine neugewonnene Freiheit nicht so leicht wieder aufgeben“, meinte die Expertin der Luxemburger „Centrale ornithologique“ bereits im November letzten Jahres. Vielmehr habe sich der Rotmilan im knapp 500 Meter Luftlinie entfernten Park des Seniorenheims niedergelassen.
Dass ein Rotmilan derart auf Tuchfühlung mit Menschen geht, sei äußerst ungewöhnlich. Das aggressive Benehmen des Greifvogels konnten die Ornithologen zwar mit der Nahrungssuche im Hinblick auf den bevorstehenden Winter erklären. Andere Gewohnheiten aber zeigten, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Rotmilan handelt. So war bei Thomas nicht nur der Zugtrieb abhandengekommen, sondern er machte auch keine weiteren Anstalten, einen Horst zu bauen, um sich fortzupflanzen. Von den fast täglichen Begegnungen mit Menschen ganz abgesehen – was für Greifvögel dieser Art ganz unnatürlich ist.
Im Gespräch mit Bewohnern des Seniorenheims und Besuchern des angrenzenden Parks ist es heute kaum noch möglich, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. Fast jeder will schon mal Bekanntschaft mit dem Greifvogel gemacht haben, den die Ornithologen der Luxemburger Vogelstation auf den Namen Thomas getauft haben. Eine Dame behauptet beispielsweise, den Rotmilan jeden Morgen kurz nach 6 Uhr auf ihrem Balkon zu empfangen. „Dort richtet er jedes Mal eine schöne Sauerei an“, so die Betroffene gegenüber dem Tageblatt.
Andere Spaziergänger erzählen, dass sich Thomas mit einem Komplizen zusammen getan habe, um die Umgebung unsicher zu machen: Er sei zuletzt immer „mit einem kleineren Vogel unterwegs“, so ein weiterer Gesprächsteilnehmer. Er habe es besonders auf kleine Hunde abgesehen, behaupten manche. Andere erzählen wiederum davon, wie der Greifvogel im Sturzflug auf sie zugehalten habe, um ihnen die Mütze vom Kopf zu reißen oder das Butterbrot aus der Hand. Dabei sei den Erzählungen zufolge auch schon Blut geflossen.
„Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen“, meint eine Mitarbeiterin des CIPA. Es stimme, dass der Greifvogel auf Tuchfühlung zu den Menschen gegangen sei und viele Spaziergänger auf einem falschen Fuß erwischt habe. Manchen Leuten habe das imposante Tier sogar einen derartigen Schrecken eingejagt, dass die Heimleitung sich im Herbst letzten Jahres dazu veranlasst sah, die Heimbewohner vor Spaziergängen im Park zu warnen. „Dabei sind vielleicht auch ein, zwei Personen zu Boden gegangen. So ein Rotmilan ist schließlich ein eindrucksvolles Tier“, so die Pflegerin.
Auch dem Tageblatt wurden in den letzten Monaten immer wieder Begegnungen mit Thomas zugetragen. Es werde immer schlimmer, meinte ein Leser, dessen Ehefrau vom Vogel angegriffen worden sei. Die Menschen trauten sich nicht mehr in den Park, so ein anderer Betroffener. Doch dann wurde es plötzlich ruhig um Thomas: Er sei von den Behörden erschossen worden, so das Gerücht. Sechsmal habe man auf den armen Vogel geschossen. Dann sei er leblos vom Ast gefallen.
Tageblatt recherchiert: Thomas lebt!
Eine Nachricht, die das Tageblatt zutiefst verunsichert hat. Unverzüglich hat die tierfreundliche Redaktion Recherchen angestrengt. Glücklicherweise kann die Zeitung an dieser Stelle Entwarnung geben: Thomas lebt! Niemand hat mit scharfer Munition auf den Greifvogel geschossen. Auch ist er nicht leblos zu Boden gegangen. Das haben Mitarbeiter der Luxemburger „Station ornithologique“ dem Tageblatt am Donnerstag versichert.
Tatsache ist: Thomas wurde vor wenigen Wochen in Deutschland eingefangen, wo er sich ein zweites Revier eingerichtet hatte. Der Rotmilan befinde sich aktuell auf einer deutschen Wildtierstation und werde auch nicht mehr ausgewildert, so eine Mitarbeiterin der „Station ornithologique“. Den deutschen Kollegen sei das geglückt, was den Luxemburgern verwehrt blieb: Sie konnten den Greifvogel artgerecht einfangen.
Offenbar hatte es Thomas in seinem zweiten Revier genauso bunt getrieben wie in Düdelingen. Deutsche Experten wurden daraufhin beauftragt, den Greifvogel mit einem Netzgewehr einzufangen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann auch der Luxemburger Peilsender gefunden, mit dem das Tier ausgestattet worden war. Die Pflegestation für Wildtiere in Düdelingen wurde daraufhin in Kenntnis gesetzt. „Die Kollegen aus Deutschland waren etwas schneller als wir“, so die Mitarbeiterin. Das Tier sei auf jeden Fall wohl auf. Und die Bewohner des CIPA Düdelingen ab sofort wieder in Sicherheit.
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