Tag der seltenen KrankheitenAuf der Suche nach Gewissheit

Tag der seltenen Krankheiten / Auf der Suche nach Gewissheit
Betroffene Patienten fühlen sich oft nicht ernst genommen Foto: AFP/Ali Al-Daher

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Geschätzt 30.000 Menschen sind in Luxemburg von einer seltenen Krankheit betroffen. Nicht alle Patienten haben einen Namen für ihre Erkrankung, denn: Der Weg zur richtigen Diagnose ist oft lang und beschwerlich. Das war auch bei der 37-jährigen Jessica Goedert der Fall.

Dieses Jahr ist kein Schaltjahr und somit wird es 2021 keinen 29. Februar geben. Denn dies ist ein seltener Tag – nur alle vier Jahre kommt er vor. Ebenso selten sind die Krankheiten, auf die am 29. beziehungsweise 28. Februar aufmerksam gemacht wird. Rund 2.300 verschiedene Arten von seltenen Krankheiten kommen laut Gesundheitsministerium im Großherzogtum vor, einer Hochrechnung von Eurodis und Orphanet zufolge sind 30.000 Menschen betroffen.

Eine von ihnen ist Jessica Goedert aus Beles. Die 37-jährige Frau mit Kurzhaarschnitt und ihrem von rund 40 Tätowierungen verzierten Körper hat das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) – eine genetische Bindegewebsschwäche, wie sie erklärt: „Im Vergleich zu anderen kann ich meine Gelenke mehr beanspruchen und diese weiter nach hinten verbiegen. Dadurch nutzen sie schnell ab. Manchmal sage ich, wir sind wie Schlangenmenschen – aber mit Arthrose.“ Und das geht für die Mutter von zwei Kindern tagtäglich mit Schmerzen einher.

Fehlende Daten

Wie viele Betroffene im Großherzogtum mit EDS leben, weiß das Gesundheitsministerium aktuell nicht. „Im Jahr 2019 wurde in Luxemburg eine Zählung von seltenen Krankheiten durchgeführt, um die verschiedenen Pathologien zu erfassen. Dadurch wissen wir, dass es Fälle von EDS in Luxemburg gibt. Durch den ,Plan national maladies rares‘ soll nun ein nationales Register der seltenen Krankheiten geschaffen werden. So werden wir dann auch die Anzahl der Fälle kennen“, heißt es vom „Service coordination des plans nationaux“ der „Santé“. Jessica Goedert weiß von rund 20 anderen Betroffenen im Großherzogtum; über eine von ihr gegründete Facebook-Gruppe ist sie mit ihnen in Kontakt. Der Weg zur richtigen Diagnose war für viele von ihnen lang – auch für Jessica Goedert.

Von Geburt an leidet sie unter Asthma und Allergien. „Im Alter von sechs Jahren hatte ich dann häufig Rückenschmerzen, vor allem wenn ich den schweren Rucksack zur Schule tragen musste. ‚Du gewöhnst dich daran‘, sagte unser Hausarzt. Wenn ich zu Hause den Wäschekorb aufheben wollte, renkte ich mir dabei die Schulter aus. Mit 14 Jahren wurde ich öfters mit dem Rollstuhl vom Fieldgen zur Zitha-Klinik gefahren, weil ich mir im Sportunterricht mal wieder die Bänder überdehnt hatte“, erzählt die sehr lebenslustig wirkende Frau aus ihrer Kindheit.

Heute weiß sie, dass ihre durch EDS geschwächten Bänder und Muskeln ihre Gelenke nicht halten. Deshalb nutzt sie orthopädische Produkte, Kompressionshandschuhe und einen Rückenschoner, um ihren Alltag zu meistern. An schlechten Tagen unterstützen Krücken oder ein Stock sie beim Gehen. Als Kind allerdings bekommt sie von den Erwachsenen aus ihrem Umfeld zu hören, sie soll sich nicht so anstellen, sei zu sensibel. Ärzte raten ihr nur dazu, mehr Sport zu machen. Jeden Tag hat die kleine Jessica Schmerzen. Trotzdem ist sie ein aufgewecktes Kind. „Ich bin ein zappeliger Mensch, bewege mich ständig und lache viel. Mein Körper bleibt dadurch warm. Wenn ich still bin, kommen die Schmerzen“, erklärt Jessica Goedert. Und lacht sogar dabei. 

Odysee von Arzt zu Arzt

Was folgt, sind zahlreiche Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte – auf der jahrzehntelang andauernden Suche nach einer Diagnose. „Ärzten wird beigebracht, einen Patienten auf gängige Krankheitsbilder hin zu untersuchen. Ich hatte immer das Gefühl, sie hören mir nicht richtig zu. Ich war richtig angeekelt von der Medizin“, so Jessica Goedert. Im April 2019 gibt ein Arbeitskollege ihr den Kontakt eines Internisten. Nach 36 Jahren ist er es, der die Diagnose einer seltenen Krankheit stellt: EDS. „Alles, was ich dazu im Internet las, stimmte mit meinen Erfahrungen überein. Endlich hatte ich einen Namen dafür. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Häufchen Elend. Ich wusste, dass es für den Rest meines Lebens ist“, erzählt die Mutter von zwei Kindern. Denn für 95 Prozent aller seltenen Krankheiten gibt es keine Heilung. Dass der Weg zur Gewissheit oft lang ist, weiß auch Shirley Feider-Rohen.

Sie selbst lebt mit einer seltenen, neuromuskulären Krankheit und setzt sich als Präsidentin von „ALAN – Maladies rares Luxembourg“ für andere Betroffene und ihre Familien ein. Durchschnittlich fünf Jahre dauert es, bis ein Patient seine Diagnose erhält, rund sechs Jahre waren es bei ihr. Eine Kombination aus mehreren Ursachen sei der Grund für diesen langen Prozess: „Es beginnt oft schleichend und die Patienten kommen noch damit klar. Dann versuchen Ärzte meist zuerst, besonders häufig auftretende Krankheiten auszuschließen. Manchmal bekommt man eine falsche Diagnose und Behandlung oder muss ins Ausland überwiesen werden – all das kostet Zeit.“

Zu viel Stress?

Betroffene fühlten sich oft nicht ernst genommen, erzählt Shirley Feider-Rohen weiter: „Schmerzen werden abgetan mit Bemerkungen wie ‚Du hast sicher nur zu viel Stress, entspann dich‘.“ Mit solchen Aussagen will Jessica Goedert das Leiden ihrer beiden Kinder nicht abtun. Wie 72 Prozent aller seltenen Krankheiten ist EDS genetisch bedingt – viele Eltern geben die Erkrankung an ihre Kinder weiter. Für eine Diagnose ist es bei der neunjährigen Samantha und dem siebenjährigen Ben noch zu früh, aber: „Bei Samantha ist es wie bei mir damals, sie leidet unter Asthma und Allergien. Oft sind ihre Schultern entzündet. Ben ist extrem gelenkig, hat aber zum Glück keine Allergien. Hätte ich meine Diagnose früher erhalten, ich hätte das doch niemals meinem Nachwuchs angetan“, sagt Jessica Goedert und wird dabei ungewohnt still. Doch eins weiß sie sicher: Ihren Kindern soll es anders ergehen als ihr selbst. Wenn die beiden über Schmerzen klagen, hört die Mutter ihnen zu.

Aktuell wird mit dem „Plan national des maladies rares 2018-2022“ daran gearbeitet, dass der Weg zur richtigen Diagnose kürzer wird. Durch ein internationales Netzwerk sollen Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen in ganz Europa miteinander verknüpft werden. Über diesen Weg wird medizinisches Fachpersonal in Luxemburg dann leichter Kontakt zu Spezialisten im Ausland aufnehmen können. „Dieser Dienst wird für eine wirkungsvollere und frühzeitige Betreuung der Patienten sorgen, Ungerechtigkeiten im Zugang zu medizinischer Versorgung reduzieren und die europäische Kooperation erleichtern“, heißt es vom „Service coordination des plans nationaux“ der „Santé“. Wie es auch bei anderen Aktionsplänen der Fall war, hat allerdings die Corona-Krise die Umsetzung dieses „Plan national des maladies rares“ aufgehalten. Vor allem zu Beginn des ersten Lockdowns in 2020 war das der Fall, stellt Shirley Feider-Rohen fest.

Als Vertreterin von „ALAN – Maladies Rares Luxembourg“ ist sie an der Ausführung des Aktionsplans beteiligt: „Wir wurden ausgebremst, haben aber trotzdem verschiedene Arbeitsblöcke finalisiert. Der Fortschritt ist da.“ Und somit auch die Hoffnung, dass die Ungewissheit für Menschen mit einer seltenen Krankheit schon bald nicht mehr zum Alltag gehören muss.

Unterstützung und Hilfe

Menschen mit einer seltenen Erkrankung und ihre Angehörigen erhalten in Kockelscheuer an der rue de l’Innovation Unterstützung von „ALAN – Maladies Rares Luxembourg“. Die Vereinigung informiert über seltene Krankheiten und bietet Beratungen an. Aktuell werden diese sowohl virtuell als auch vor Ort durchgeführt – unter Beachtung aller geltenden Sicherheitsmaßnahmen. Hilfe gibt es aber auch bei der Infoline „Maladies rares“, die 2019 im Zuge des „Plan national des maladies rares“ eingerichtet wurde. Von montags bis freitags kann man sich zwischen 9 und 12 Uhr sowie 13 und 17 Uhr unter der Telefonnummer 20 21 20 22 melden. Oder man schreibt eine E-Mail an infolinemr@alan.lu. Mehr Informationen dazu gibt es unter: www.alan.lu