Spanien Auf den Kanaren kommen immer mehr Flüchtlingsboote an

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In solchen Booten machen sich Menschen vom afrikanischen Kontinent aus auf den Weg zu den Kanarischen Inseln. Viele überleben das Wagnis nicht. Bild aus dem Hafen von Los Cristianos auf Teneriffa Ende April 2021. Foto: AFP/Désirée Martin

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„Der Atlantik vor den Kanaren darf nicht zum Grab werden“, rufen die Demonstranten, die mittags über die Strandpromenade in Las Palmas de Gran Canaria ziehen. Viele der Demonstranten tragen weiße Pappschilder, auf denen Namen stehen: Ahamadou, Faray, Mariam, Soumahoro.

Es sind die Vornamen von afrikanischen Immigranten, die in den letzten Monaten versucht hatten, mit dem Boot nach Gran Canaria zu gelangen. Und die auf der lebensgefährlichen Reise zu diesem spanischen und damit europäischen Territorium im Meer ertrunken sind. „Wir müssen diese Todesdramen stoppen“, schallt es aus den Megafonen über die Promenade. Fast verschreckt schauen die Urlauber auf, die in den belebten Straßencafés auf der Meeresallee in Las Palmas sitzen. Direkt hinter der Promenade liegt der Strand Las Canteras. Ein Meer von bunten Sonnenschirmen signalisiert, dass die Touristen in diesem zweiten Corona-Jahr wieder zurückgekommen sind. Wenn auch nur zögerlich. Nur jedes dritte Hotelbett ist diesen Sommer belegt.

Auf der spanischen Ferieninsel prallen in diesen Tagen Kontraste aufeinander: Die idyllische Welt der Urlauber, die auf der Suche nach Sonne und Erholung per Flugzeug im Inselparadies landen. Und die afrikanischen Flüchtlinge und Migranten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in immer größerer Zahl mit wackeligen Booten auf der Vulkaninsel antreiben.

Im Süden, 70 Kilometer von Las Palmas entfernt, befindet sich der Ort Arguineguín. Im Hafen des Fischerdorfes läuft gerade der Seenotkreuzer „Guardamar Talia“ ein. Das leuchtend orangefarbige Rettungsschiff hat ein weiß-blaues Flüchtlingsboot im Schlepptau, das Stunden zuvor manövrierunfähig vor Gran Canaria entdeckt worden war. Nachdem die „Guardamar“ anlegte, klettern 18 Migranten auf die Hafenmole, wo sie von Rot-Kreuz-Helfern versorgt werden. Wenig später wird von den Helfern eine Bahre vom Schiff auf den Kai getragen. Unter einem weißen Tuch zeichnen sich die Umrisse eines weiteren Immigranten ab, der nur noch tot geborgen werden konnte.

Die Geretteten stammen dieses Mal aus Marokko und aus der marokkanisch besetzten Westsahara, die etwa 250 Kilometer von Gran Canaria entfernt liegt. Doch die meisten Bootsmigranten, die in den letzten Wochen den Atlantik überquerten, kommen aus weiter südlich liegenden Armutsländern, die zuweilen mehrere Wochenreisen entfernt liegen wie etwa Mauretanien, Mali, Senegal oder Gambia.

Der Weg von Westafrika zu den Kanarischen Inseln ist die tödlichste Migrationsroute der Welt

Helena Maleno, Sprecherin der Menschenrechtsgruppe „Caminando Fronteras“

Der Hafen Arguineguín ist seit Monaten der Brennpunkt der Migrantenkrise auf den Kanaren. Im vergangenen Herbst gingen Bilder aus Arguineguín um die Welt, als innerhalb weniger Tage Tausende Flüchtlinge und Migranten aus dem Meer gerettet wurden und sich auf der Hafenmole drängelten. Die Behörden waren überfordert, wussten vorübergehend nicht mehr, wohin mit den vielen Menschen und mussten sogar Hotels zur Unterbringung anmieten.

Migranten wollen nicht in Spanien bleiben

Diesen Sommer ist die Insel besser vorbereitet. Auf Gran Canaria wie auf der Nachbarinsel Teneriffa wurden mehrere große Aufnahmelager mit Tausenden von Schlafplätzen gebaut. „Finanziert mit Geldern der Europäischen Union“, steht auf den Zelten, die zum Beispiel auf einem alten Schulgelände am Rande von Las Palmas stehen. Von diesen Auffangstellen werden die meisten Ankommenden später aufs spanische Festland überführt, um zu verhindern, dass die Insellager aus allen Nähten platzen. Nur wenige werden in die Herkunftsländer abgeschoben, weil die Pandemie und der mangelnde Wille vieler afrikanischer Staaten die Zurückführung erschweren.

Doch die meisten Afrikaner, die Kurs auf die Kanarischen Inseln nehmen und von dort irgendwann aufs spanische Festland gelangen, wollen ohnehin nicht in Spanien bleiben. Sie träumen von anderen europäischen Ländern. Vor allem von Frankreich. Oder Deutschland. Spanien hat wegen einer sehr restriktiven Asylpolitik bei den afrikanischen Einwanderern keinen guten Ruf.

Frankreich war auch das Ziel des 41-jährigen Arouna. Er hatte sich vor einigen Wochen per Boot von der Elfenbeinküste auf den Weg gemacht, um zu seinem älteren Bruder Adama zu kommen, der bereits länger in Frankreich lebt. Arouna, verheiratet und Vater dreier Kinder, bezahlte seinen Traum mit dem Leben. Sein Boot kenterte kurz vorm Ziel und Arouna ertrank. „Arouna hatte nur einen Wunsch: Er wollte seiner Familie helfen, die er in der Heimat zurückgelassen hatte“, berichtete Adama nach dem Tod seines Bruders.

Eines von unzähligen Migrantenschicksalen, die auf den Kanarischen Inseln bekannt werden. Und es werden noch viele weitere hinzukommen: Seit Jahresbeginn wurden bis Ende Juli bereits rund 200 Boote mit insgesamt 7.500 Menschen vor den Kanarischen Inseln gerettet. Das sind nach der Statistik des spanischen Innenministeriums mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Behörden sprechen deswegen schon von einem „heißen Flüchtlingssommer“.

Tödlichste Migrationsroute

Mit der Zahl an Flüchtlingen wächst auch die Zahl der Tragödien. Schon mehrfach spielten sich diese im kanarischen Fischerort Órzola im Norden der Kanareninsel Lanzarote ab, die vor allem vom gegenüberliegenden Marokko aus angesteuert wird. Dort strandete erst vor Kurzem wieder in der Nacht ein Schlauchboot an der rauen Felsenküste. „Die Menschen schrien und es war dunkel“, erinnert sich Marcial Curbelo, der den Menschen zusammen mit anderen Dorfbewohnern im Licht von Taschenlampen zu Hilfe eilte. „Es war ein Chaos.“ Das neun Meter lange Gummiboot, in dem 49 Menschen saßen, war in der Brandung umgekippt. „Es waren viele Frauen und Kinder und auch einige Babys an Bord.“ Nicht alle überlebten. Vier Menschen, darunter eine schwangere Frau und ein achtjähriges Kind, konnten nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden.

Die UN-Migrationsorganisation IOM zählte 2021 bereits 250 Tote auf dem Weg zu den Kanaren. Sie räumt jedoch ein, dass viele Boote spurlos vom Meer verschluckt werden und dass diese „verborgenen Unglücke“ dann nicht in der Statistik auftauchen.

Die Menschenrechtsgruppe „Caminando Fronteras“, die sich auf Aussagen von Familienangehörigen vermisster Migranten stützt, geht davon aus, dass seit Januar nahezu 2.000 „Boatpeople“ vor den Kanaren ertrunken sind. Sprecherin Helena Maleno: „Der Weg von Westafrika zu den Kanarischen Inseln ist die tödlichste Migrationsroute der Welt.“