KritikAuf dem Dach der Welt – „Le sommet des dieux“ ist der zweite Film von Patrick Imbert

Kritik / Auf dem Dach der Welt – „Le sommet des dieux“ ist der zweite Film von Patrick Imbert
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Literatur dient seit Beginn des „septième art“ als zuverlässiger Lieferdienst für filmische Stoffe jeglicher Größenordnung. Comicverfilmungen, meistens als großbudgetierte Superheldenfilme dekliniert, überschwemmen seit Jahren die Kinoleinwände. Immer mal wieder wird sogar das Kinopublikum daran erinnert, dass die Literaturgattung aus Zeichnungen und Sprechblasen sich nicht auf Spandex kostümierte Übermenschen begrenzt. Patrick Imbert hat von seinem ersten zum zweiten abendfüllenden Spielfilm „Le sommet des dieux“ einen ähnlich thematischen Sprung gemacht. Zwar nicht weg von übernatürlichen Superhelden, sondern weg vom Kinderprogramm – der co-inszenierte „Le grand méchant renard et autres contes“ – zur Verfilmung eines japanischen Mangas.

Der Film steigt in die psychologischen Tiefen der Spezies Bergsteiger und steigt dafür mit ihnen aufs Plateau der Weltoberfläche. Zu Beginn trifft man den japanischen Naturfotografen Fukamachi, der während eines Jobs im nepalesischen Kathmandu den Hinweis auf eine legendenumwobene Fotokamera bekommt. Auf dieser könnte sich eventuell der fotografische Beweis befinden, dass der englische Bergsteiger George Mallory schon 30 Jahre vor der ersten anerkannten Bergbesteigung auf der Spitze des Everests stand. Ein Scoop, der die Geschichte des Bergsteigens unumgänglich neu schreiben würde. Im Besitz dieser Kamera scheint der genauso mysteriöse wie auch verschollene Habu Jôji zu sein. Bei seiner Suche nach dieser Kodak Vest Pocket und seinem Besitzer taucht Fukamachi in eine Welt von Menschen ein, die ein Verständnis vom Leben und von Herausforderung haben, welche öfters als nicht lebensgefährliche Ausmaße bekommen. Nur um irgendwann selbst auf dem Weg zum titelgebenden Gipfel der Götter zu sein.

Kinoadaption eines Mangas

Auf den ersten Blick scheint es einen Funken befremdlich, dass sich ein europäischer Animationsregisseur und europäische Produktionsfirmen – darunter auch die luxemburgische Melusine Productions – an der langwierigen Kinoadaption eines japanischen Mangas beteiligen. Die frankofone Schule in Sachen Comics und Graphic Novels könnte im Grunde genommen nicht unterschiedlicher zur japanischen sein – das klassische Beispiel dafür ist natürlich, wie die Augen in japanischen Mangas zu Blatt gebracht werden. Der Autor Jiro Taniguchi hat in seiner Vorlage jedoch mit seinem Hang für Realismus eine europäische Comic-Sensibilität an den Tag gelegt, die die kreativen Verantwortlichen des Films angesprochen hat. Patrick Imbert und sein großes Team wiederum haben großen Wert darauf gelegt, die grafische Natur von Taniguchis Werk aufrechtzuerhalten. Narrativ gesehen ist „Le sommet des dieux“ natürlich eine Adaptation, insofern, als aus dem fünfbändigen Manga ein 90-Minüter herausgeschält werden musste.

Wenn man von der anfänglich etwas schwerfällig konstruierten erzählerischen Einrichtung aus multiplen Zeitebenen hinwegkommt, zeichnet „Le sommet des dieux“ das Porträt eines Wurf Menschen, den man eigentlich gar nicht nachzuvollziehen weiß. Das scheinbare Sinnlose am Nach-Oben-Steigen, um kurz danach wieder herunterzusteigen, formuliert der Film tatsächlich auch von ganz alleine, aber Imbert weiß, inmitten der majestätischen Himalayas das Kleine hervorzustreichen. Genau wie die winzige Kamera – der MacGuffin der Erzählung – sind die Figuren wenigstens genauso winzig und versuchen in der direkten Konfrontation mit den Bergen, die sich öfters (mit ihrem Leben) verlieren, als dass sie sie gewinnen.

Bleibende Faszination

Es wirkt, als ob die Figuren während des ewigen Auf- und Absteigens, welches die abstrakte Notion vom Sinn des Lebens für sie darstellt, die Grenzen zwischen dem Schönen und dem Erhabenen nach Edmund Burke – also zwischen dem, was ästhetisch ansprechend ist, und dem, was einen in die Knie zwingen und zerstören kann – verwischen wollen. Die Berge als Ort, wo sie das Existenzielle mit dem puren Romantischen zu treffen vermag. Kein Wunder, dass diese Berge und diese Menschen Autoren und Filmemacher so faszinieren. Ob wir dabei nun Alex Honnold bei der Free-Solo-Besteigung des El Capitan im amerikanischen Yosemite beobachten oder Reinhold Messners Gasherbrum-Besteigung vor Werner Herzogs Kamera oder jene Besteigungen in gezeichneter Abhandlung verfolgen.

Die Faszination bleibt bei aller Kälte, die „Le sommet des dieux“ gegenüber seinen Figuren über weite Strecken einhält – die der von Fukamachi zu Habu im letzten Akt gleichkommt –, haargenau die gleiche. Animationstechnik macht dieser nicht eine Sekunde lang einen Abstrich. „Le sommet des dieux“ bietet atemberaubende Vistas, eine glasklar und -klirrende Auseinandersetzung in der Tonarbeit – Amin Bouhafas Musik ist zum Niederknien – und zähneknirschend spannende Sequenzen. Eine Fabel von modernen Ikarusen, die immer wieder zu nahe an die Sonne fliegen und immer wieder abstürzen und trotzdem so etwas wie den Status von wirklich übermenschlichen Superhelden innehaben.