Mittwoch12. November 2025

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AnalyseAuch in Deutschland steigt der Druck auf die Sozialpolitik

Analyse / Auch in Deutschland steigt der Druck auf die Sozialpolitik
Die deutsche Arbeitsministerin Bärbel Bas und Finanzminister Lars Klingbeil werden in der Merz-Regierung viel zu tun haben, um den sozialen Aspekt in der „Sozialen Marktwirtschaft“ zu erhalten Foto: AFP/Tobias Schwarz

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Spitzenreiter bei Krankheitstagen, Schlusslicht bei Jahresarbeitszeiten und eine hohe Teilzeitquote: Deutschland steht nicht gut da. Der deutsche Kanzler warnt vor Wohlstandsverlusten, die Koalition hat einiges vor.

Der Kanzler hat in seiner ersten Regierungserklärung die Zielsetzung der Sozialen Marktwirtschaft erneuert: „Wohlstand für alle“ – dieses Versprechen müsse wieder eingelöst werden. Schon zuvor hatte Friedrich Merz gesagt: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance können wir den Wohlstand nicht erhalten.“ Das löst eine Debatte über Arbeitszeiten, Krankheitstage, Teilzeit aus: Wie faul sind die Deutschen?

Arbeitszeiten Eine Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gibt Merz recht: Demnach arbeitete ein Deutscher im Erwerbsalter (zwischen 15 und 64 Jahren) im Jahr 2023 im Schnitt 1.036 Stunden. Ein Grieche kommt auf 1.172 Stunden, ein Pole auf 1.305 Stunden. Beim Spitzenreiter Neuseeland sind es mehr als 1.400 Stunden. Nur in Frankreich (1.027 Stunden) und Belgien (1.021) sind es pro Kopf noch weniger Stunden als in Deutschland. Wie passt es dazu, dass in Deutschland zugleich so viele Menschen arbeiten wie noch nie? „Die Zahl der Erwerbstätigen hat im Mai 2024 einen Höhepunkt von rund 46 Millionen erreicht. Die Zahl sinkt seitdem, und nur wenig spricht dafür, dass sich das in den kommenden Jahren ändert“, sagt Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte des IW. Bis 2036 gehen fast 20 Millionen Babyboomer in Rente. „Das gesamtdeutsche Arbeitsvolumen, also die Summe aller gearbeiteten Stunden, könnte zurückgehen.“

Krankheitstage In keinem Industrieland fehlen Arbeitnehmer so oft wegen Krankheit wie in Deutschland. „Deutschland steht mit 24,9 bezahlten krankheitsbedingten Fehltagen pro Jahr an der Spitze, gefolgt von Lettland (20,4 Tage) und Tschechien (19,2 Tage)“, schreibt das Institut IGES in einer Auswertung für die Krankenkasse DAK. Die Niederlande (15,0 Tage) und Frankreich (14,2 Tage) liegen im Mittelfeld. Die wenigsten Fehlzeiten weisen Litauen (8,8 Tage) und Bulgarien (6,1 Tage) auf. Das hat auch etwas mit der unterschiedlichen Art der Lohnfortzahlung zu tun: Manche Länder (wie Frankreich und Irland) haben Karenztage, in denen es zunächst keine Lohnfortzahlung gibt. Andere Länder (wie Bulgarien, Niederlande, Polen) haben eine eingeschränkte Lohnfortzahlung von 25 Prozent bis 90 Prozent in den ersten Tagen. In Deutschland gibt es dagegen (wie auch in Belgien) eine hundertprozentige Lohnfortzahlung.

Ministerin nimmt Wirtschaft in die Pflicht

Hohe Teilzeitquote Im Jahr 2023 arbeiteten in Deutschland rund 30 Prozent der Menschen in Teilzeit, in Italien waren es 18 Prozent, in Polen nur sechs Prozent, schreibt IW-Forscher Schäfer. „Ein Grund: Der steile Steuertarif bei mittleren Einkommen macht Mehrarbeit in vielen Fällen unattraktiv.“ Der Wirtschaftsweise Martin Werding regt an, Hindernisse für eine höhere Stundenzahl zu beseitigen: Die Erwerbsanreize für Zweit- und Geringverdiener sollten verbessert werden. „Helfen würden mit Blick auf die Frauenerwerbsbeteiligung ganz sicher mehr und vor allem verlässlichere Kinderbetreuungsmöglichkeiten“, so der Bochumer Ökonom.

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) sieht vor allem die Wirtschaft in der Pflicht: „Die Arbeitgeber müssen die Arbeitswelt so gestalten, dass mehr Mütter in Vollzeit arbeiten können“, sagte Bas gerade in einem Interview. Viele Mütter wollten mehr arbeiten, fehlende Kinderbetreuung oder familienfeindliche Arbeitsmodelle hinderten sie daran. Bas verspricht: „Wir setzen in der Koalition auf den Ausbau der Kinderbetreuung. Prämien für den Wechsel in Vollzeit vom Arbeitgeber fördern wir steuerlich.“ Schon im Koalitionsvertrag heißt es: „Wenn Arbeitgeber eine Prämie zur Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeit auf dauerhaft an Tarifverträgen orientierte Vollzeit zahlen, wird diese Prämie steuerlich begünstigt.“ Den Gesetzentwurf will Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) noch in diesem Jahr auf den Weg bringen.

Steuerfreiheit von Überstunden

Mehrarbeit will die Koalition auch durch die Steuerfreiheit von Überstunden erreichen. „Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte beziehungsweise an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, werden steuerfrei gestellt“, heißt es im Koalitionsvertrag. Die Gefahr ist allerdings, dass der Unterschied zwischen denen, die bereits viel arbeiten, und jenen, die Transferleistungen erhalten, noch größer wird.

Früh in Rente Nur wenige Deutsche arbeiten bis zum regulären Renteneintrittsalter. Daher fordert Martin Werding: „Soweit es neben mehr Wachstum auch um die Finanzierbarkeit der Renten geht, sind vor allem die Regelaltersgrenze und die weiter bestehenden Frühverrentungsanreize durch geringe Rentenabschläge und abschlagsfreie Renteneintritte zu prüfen.“ Die Regelaltersgrenze steigt derzeit auf 67 Jahre an, Ökonomen halten das nicht für ausreichend.

Arbeitszeitgesetz Das dickste Brett für Bärbel Bas wird ein neues Arbeitszeitgesetz sein. Die Union hat durchgesetzt, die in der EU zulässige Wochen-Höchstarbeitszeit von 48 Stunden zum Maßstab zu machen. Die Gewerkschaften fürchten, dass dies eine Abschaffung des Acht-Stunden-Tages bedeutet und lehnen die Pläne ab. Bas wird eine gesichtswahrende Lösung finden müssen. Helfen kann ihr eine Einschränkung im Koalitionsvertrag: „Zur konkreten Ausgestaltung werden wir einen Dialog mit den Sozialpartnern durchführen“, heißt es darin. Bis ein neues Arbeitszeitgesetz wirksam werden kann, können Jahre vergehen. Martin Werding beschwichtigt: „Bei der Diskussion geht es um mehr Flexibilität beim Arbeitseinsatz, nicht um eine Ausweitung des normalen Vollzeitarbeitsvolumens.“ Eine Reform könnte auch vielen Arbeitnehmern entgegenkommen. „Wir sollten das ohne Scheuklappen diskutieren.“