Arbeitsheld Lech Walesa über die EU-Wahl: „Haben Populisten das Feld überlassen“

Arbeitsheld Lech Walesa über die EU-Wahl: „Haben Populisten das Feld überlassen“

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Lech Walesa (75) ist bis heute eine der wichtigsten Stimmen Polens. Er sorgt sich im Interview um die Zukunft der EU und den Populismus von Politikern wie Kaczynski, Salvini und Trump.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Danzig

Zur Person

Der heute 75-jährige Lech Walesa war vor 1980 als Danziger Streikführer ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit getreten. Nach sechs Jahren Dienst bei der Polnischen Volksarmee arbeitete Walesa seit 1967 in der Danziger Lenin-Werft. 1970 nahm er an dem blutig niedergeschlagenen Streik teil, kam kurze Zeit ins Gefängnis und bemühte sich ab 1978 im Untergrund um einen unabhängigen Gewerkschaftsbund im Danziger Raum.

1980 trotzte er der realsozialistischen Regierung das Zugeständnis unabhängiger Gewerkschaften ab und wurde in der Folge an die Spitze der landesweiten Gewerkschaft Solidarnosc gewählt. Nach der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 wurde er bis November 1982 interniert. 1989 führte der Friedensnobelpreisträger von 1983 die Oppositionsdelegation bei den „Gesprächen am Runden Tisch“, die im Sommer 1989 zu den ersten halbfreien Wahlen im Ostblock führten.

Von 1990 bis 1995 war Lech Walesa Staatspräsident. Sein polarisierender Stil kostete ihn indes die Wiederwahl. Auch zerstritt er sich damals mit seinem Kanzleichef Jaroslaw Kaczynski, dem heute starken Mann in Polen. Kaczynski wirft seinem früheren Mentor seitdem Kungeleien mit den früheren kommunistischen Machthabern vor. 1992 ließ er noch öffentlich Walesa-Puppen verbrennen und führte Protestzüge unter dem Motto „Walesa nach Moskau!“ an.

Tageblatt: Auf Ihrem Pullover steht „Verfassung!“ Was ist das für ein Protest?

Lech Walesa: In Polen wird die Gewaltenteilung gebrochen, dagegen protestiere ich. Die Verfassung garantiert eigentlich klar unabhängige Gerichte, diese aber haben wir nicht mehr. Aber ich demonstriere mit diesem Pullover nicht nur in Polen, ich demonstriere in der ganzen Welt. Denn überall auf der Welt ist die Demokratie in der Krise. Wenn die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent gesunken ist, kann man meiner Meinung nach nicht mehr von Demokratie sprechen.

Sie meinen die Europawahlen?

Nicht nur. Ich sehe das breiter. Die Demokratie befindet sich in der Krise, weil die Umwälzungen in Osteuropa schneller stattfanden, als ich das geplant hatte. Wir hatten zu große Erfolge, um das alles zu verdauen. Ich denke dabei an die Wiedervereinigung Deutschlands, die Abschaffung der Grenzen, den Euro als gemeinsame Währung. Was uns aber fehlt, ist ein Fundament für den Bau des neuen Europas, welches eine klare Mehrheit der Bürger anerkennen. Hier müssen wir uns zuerst noch über die gemeinsamen Werte einig werden.

Haben die Europawahlen nicht auch gezeigt, dass das Volk Reformen will?

Das Volk will Veränderungen. Diese Diagnose ist richtig. Doch die Antworten liefern heute Populisten wie Donald Trump, Jaroslaw Kaczynski oder Emmanuel Macron, der gar keiner Partei mehr angehört.

Diese Populisten aber haben keine Lösungen, sondern sie greifen in die Mottenkiste der alten Dämonen: des Nationalismus und der Religionskriege. Und leider haben wir Reformer ihnen das Feld überlassen und laufen Gefahr, zu verlieren.

Was kann man dagegen tun?

Die Populisten und Demagogen lügen uns nur an. Was wir dagegen tun können, ist, einen Bürgerdialog mit den jeweiligen EU-Kommissaren einzuleiten. Es müssen also offene Mikrofone her und Zeitpläne, wann jeder Kommissar für solch eine Diskussion zugänglich ist. Die Bürger Europas müssen so zu Beratern der Kommission werden.

Auch müssen die Demagogen ihrer Lügen überführt werden. Da gehen sie also hin und benutzen das Handy, um ihre Lügen in die Welt zu tragen. Und da muss man sie fragen: Weshalb benutzt ihr dafür keine Brieftauben, wenn ihr so gegen die Globalisierung seid? Und schon sind sie überführt, denn das Handy ist ein Produkt der Globalisierung.

Wie endet das für die EU?

Die EU muss erhalten bleiben. Ich bin aber ein Taktiker. Deshalb fordere ich schon lange von Deutschland, Frankreich und Italien tiefe Reformen für die ganze EU. Sollten diese drei Staaten das nicht zustande bringen, dann sollen sie Polen und Ungarn eben erlauben, die alte EU zu zerstören. Sofort danach aber muss Deutschland im Alleingang eine neue EU gründen, die diesmal auf klar festgeschriebenen Regeln beruht. Zu dieser neuen EU sollen alle europäischen Staaten eingeladen werden. Sie bekommen ein Dutzend Rechte, aber auch etwa 15 Pflichten. Wer sich daran nicht hält, fliegt raus. So einfach ist das.

Mit Salvini in Italien scheint dieser Zug abgefahren. Italien wird keine Verantwortung für die EU mehr übernehmen. In Polen wiederum scheint Kaczynski nicht mehr aufzuhalten zu sein, wie die Europawahlen gezeigt haben. Was macht einen wie Kaczynski so attraktiv?

Das Problem mit Jaroslaw Kaczynski ist, dass er ein Bücherheld ist, der nichts vom richtigen Leben kennt. Solche Bücherhelden verstehen nichts vom Regieren. In den frühen Neunzigerjahren haben beide Zwillinge ja für mich gearbeitet. Sie waren gute Angestellte, ich würde sie wieder beschäftigen. Aber selbst regieren können solche Deppen nicht. Denn sie schaffen einfach alles ab, was sie beim Regieren stört. In Polen war das unter Jaroslaw Kaczynski zuerst das Verfassungsgericht und nun auch die unabhängige Gerichtsbarkeit. Natürlich stören solche Institutionen beim Regieren, sie haben auch mich gestört, aber man darf sie doch nicht abschaffen!

Ist dies in Polen der erste Schritt zurück in den Autoritarismus?

Am Anfang hatte Kaczynski gute Absichten. Aber wenn man ohne Erfahrung, nur aufgrund von Bücherwissen so anfängt, dann wird man hereingezogen und
endet als Diktator. Fast alle Diktatoren haben genauso angefangen.

Das sind starke Worte aus dem Munde des Friedensnobelpreisträgers, der in den 1980er-Jahren gegen die wirklich totalitäre Macht der Kommunisten gekämpft hat.

Kaczynski und Orban sind klassische Diktatoren geworden. Gott sei Dank aber ist es in Polen noch nicht so weit, wie es heute bereits in Ungarn ist. Deshalb müssen wir Vernünftigen und Reformer weiter stören. Wir dürfen so viel Autoritarismus nicht zulassen.

Müsste da die EU nicht einfach härter gegen Polen und Ungarn vorgehen?

Ich bin ein Praktiker, von Theorie verstehe ich wenig, deshalb will ich es mit einem Bild erklären: Heute befinden wir uns in der EU in einer Situation, als ob man alle Straßenverkehrsschilder entfernt hätte. Alles scheint erlaubt, nichts ist mehr klar.
Was uns aber immerhin bleibt, ist das Verkehrsgesetz. Wir müssen also neue Schilder aufstellen, neue Regeln vereinbaren. Und diese müssen diesmal klar und eindeutig sein. Wir dürfen nicht mehr nur einfach die Freiheit geben, sondern müssen sie mit Pflichten verbinden.

de Prolet
4. Juni 2019 - 17.02

Und wem hat er das Fels überlassen?