AnalyseAnnalena Baerbock ist zu Deutschlands Ministerin Klartext geworden – das sorgt auch für Kritik

Analyse / Annalena Baerbock ist zu Deutschlands Ministerin Klartext geworden – das sorgt auch für Kritik
Russland, China, die Türkei: Annalena Baerbock scheut keine Konfrontation – aber an ihrer Art gibt es auch Kritik  Foto: dpa/Britta Pedersen

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Außenministerin Annalena Baerbock pflegt einen sehr offenen Dialogstil. Differenzen spricht sie bei ihren Besuchen im Ausland ohne Umschweife an und sie scheut auch die Auseinandersetzung nicht, zuletzt in der Türkei. Es gibt Kritik an dieser Art von Diplomatie verbunden mit der Frage, ob Baerbock mit stillerer Vermittlung mehr erreichen könnte.

Mevlüt Cavusoglu nimmt ein paar Tropfen Zitronenwasser, das Mitarbeiter für ihn aufs Rednerpult gestellt haben. Es riecht gut und kann beruhigen. Cavusoglu verreibt es in den Händen. Der türkische Außenminister blickt rüber zu seinem Gast aus Deutschland. Draußen vor dem Gästehaus des türkischen Außenministeriums in Istanbul herrscht an diesem Juli-Abend perfekte Bosporus-Sommer-Idylle. Drinnen ist dicke Luft. Cavusoglu gönnt sich gleich einen Nachschlag vom Zitronenwasser. Neben ihm steht Annalena Baerbock, die davon erzählt, dass man mit „Plattitüden“ auf internationaler Bühne nicht weiterkomme. Dies sei einfach „keine verantwortungsvolle Außenpolitik“.

Baerbock kommt da gerade aus Athen. Noch bevor sie türkischen Boden betritt, hat sich die deutsche Außenministerin klar positioniert. Im Streit zwischen Griechenland und Türkei um Inseln wie Lesbos oder Chios, auf die Ankara Gebietsansprüche erhebt, stellt sie sich klar auf die Seite von Griechenland. „Griechische Inseln – Lesbos, Chios, Rhodos und viele, viele andere – sind griechisches Territorium“, sagte Baerbock. „Und niemand hat das Recht, das in infrage zu stellen.“

Es geht später in Istanbul noch weiter: Die deutsche Außenministerin warnt vor einer nächsten türkischen Militäroffensive in Nordsyrien. Und sie kritisiert, dass der türkische Kulturförderer Osman Kavala, der seit 2017 inhaftiert ist, weiter im Gefängnis sitzt. Kavala gilt der Regierung in Ankara als Staatsfeind, dem sie vorwirft, er habe die regierungskritischen Proteste im Gezi-Park mitorganisiert. Cavusoglu guckt inzwischen so, als würde er das Fläschchen Zitronenwasser auf ex austrinken. Gleich brennt der Bosporus.

Cavusoglu wirft Baerbock vor, Partei zu ergreifen und kein Vermittler mehr zu sein. Nach dem gemeinsamen Auftritt, der zu einem Schlagabtausch zwischen Baerbock und Cavusoglu wird, gibt es neben Lob der türkischen Opposition auch deutliche Kritik an Baerbock. Kann sich eine deutsche Außenministerin einen solchen Auftritt im Ausland leisten? Entspricht das Gepflogenheiten professioneller Diplomatie? Schadet Baerbock der Sache damit nicht mehr als es ihr nutzt? Engt sie unnötig ihren Verhandlungsspielraum ein, wenn sie Gesprächspartner derart angeht?

Neu ist der Stil nicht, die Rolle aber eine andere

Baerbocks Stil: offen, direkt, wenn es sein muss, auch konfrontativ, aber nicht künstlich auf Krawall gebürstet. So war sie schon, als sie noch als Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen durch das Land reiste. Sie redet gern mit Menschen – auch über Unangenehmes, über harte Themen, über Dinge, die aus ihrer Sicht zurechtgerückt oder geklärt werden müssen. Baerbock mag es lebensnah. Besuchte sie Unternehmen, etwa bei Siemens in Erlangen, und ihr begegnete nach 30 Minuten in der Firma immer noch keine Frau, fragte sie den Geschäftsführer: „Und Frauen gibt’s hier auch?“ Der Geschäftsführer: „Doch, wir haben hier Frauen.“ Baerbock: „Und die haben jetzt alle Urlaub?“

Aber nun ist sie nicht mehr Grünen-Vorsitzende, sondern Außenministerin der viertstärksten Volkswirtschaft der Erde, eingebettet in EU und NATO. Das Amt der deutschen Chef-Diplomatin hat eine andere Fallhöhe als das einer Parteichefin. Da zählen Nuancen, weil jedes falsche oder missverständliche Wort weltweit sofort Reaktionen auslösen kann. Vermutlich fällt Baerbocks Klarheit auch deswegen auf, weil ihr Vorgänger Heiko Maas sich nur ungern aus der Deckung traute. Cavusoglu nannte Maas „meinen Freund Heiko“, aber das half für einen besseren Umgang mit den Kurden in Nordsyrien oder im Inselstreit mit Griechenland auch nicht. Maas’ moderate Art stimmte die Türken nicht um. Jetzt kommt Baerbock und versucht es – direkt. Ihr Gegenüber versteht sie ohne Mühe, allerdings ist der Streit auch mit Klartext nicht beigelegt.

Sergej Lawrow wollte mit seiner deutschen Amtskollegin bei deren Besuch im Januar in Moskau beim Mittagessen mit Wodka anstoßen. Doch Baerbock verweigerte das Getränk und scheute stattdessen bei der gemeinsamen Pressekonferenz die Konfrontation nicht: „Wir haben keine andere Wahl, als unsere gemeinsamen Regeln zu verteidigen, auch wenn dies einen hohen wirtschaftlichen Preis hat.“ Lawrow wusste, was gemeint war: Marschiert Russland in der Ukraine ein, überziehen Deutschland und die EU Russland mit Sanktionen.

Baerbock legt sich für eine bessere Welt gerne mit Schwergewichten auf der internationalen Bühne an. Türkei, Russland – zuletzt bekam auch China einen diplomatischen Schuss vor den Bug, so stark, dass die neue deutsche Botschafterin in China, Patricia Flor, kurz darauf einen schwierigen Antrittsbesuch in Peking hatte. Kaum bei den Vereinten Nationen in New York gelandet, sagte die deutsche Außenministerin zum befürchteten Gebietshunger des übermächtigen China auf den kleinen Inselstaat Taiwan: „Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China gerade in diesen Tagen.“ Baerbock verfolgt wertegeleitete Außenpolitik – und das sollen ihre Gesprächspartner auch hören. Wenn es sein muss, eckt sie dafür an. Dann ist sie ganz Ministerin Klartext.

Jill
19. August 2022 - 12.08

Staaten haben keine Freunde, nur Interessen (de Gaulle). Und in unserer komplexen, global vernetzten Welt, wäre es klüger auf Diplomatie zu setzen und weniger auf Konfrontation, das umso mehr wenn man Exportweltmeister ist oder war. Ausserdem spricht ein Aussenminister nicht für sich, sondern repräsentiert die Bürger seines Landes, das sollte ein echter Diplomat nicht vergessen.

Robert Hottua
19. August 2022 - 9.39

Eine wertegeleitete (Außen)politik muß von historisch-empirisch abgesicherten Tatsachen ausgehen. Für das Auswärtige Amt arbeiten weltweit über 12.000 Mitarbeiter. Das müsste der deutschen Außenministerin eigentlich erlauben, zu allen unaufgearbeiteten, paradoxen Beziehungen zu allen Staaten und Regierungen Stellung zu beziehen. "Das Vergessen historischer Ereignisse ist ein gefährliches Phänomen, nicht nur weil es die moralische und intellektuelle Integrität untergräbt, sondern auch weil es die Grundlage für kommende Verbrechen legt." (Noam Chomsky) MfG Robert Hottua, 2003 Gründer der LGSP (Luxemburger Gesellschaft für Sozialpsychiatrie)