Österreich / „Alles wirkte erst so surreal“: Wien am Tag nach dem Terror
Nach dem Terroranschlag am Montagabend wankten die Menschen in Wien am Dienstag zwischen Schockzustand, Trotz und dem Versuch, das Geschehene zu begreifen. Eindrücke aus einer Stadt, deren Name jetzt Eingang in eine traurige Liste findet.
Am Tag danach scheint nahezu die gesamte Innere Stadt ein einziger, großer Tatort zu sein. Außer Polizisten und Journalisten ist kaum jemand unterwegs im Zentrum Wiens. Sonst touristische Hauptattraktion und Drehkreuz für alle Bewegungen im ersten Bezirk der Zwei-Millionen-Stadt, ist selbst der Stephansplatz an diesem wolkenverhangenen Dienstagmittag wie leergefegt.
Es ist der erste Tag des neuen, diesmal leichten Lockdowns. Es ist aber vor allem der erste Tag nach einem radikal islamistischen Terroranschlag mit bislang vier Toten und mehr als 20 Verletzten, nach einer Nacht, in der lange unklar blieb, was geschehen war – und ob noch etwas geschehen würde. Es ist der erste Tag, an dem sich die Wiener bewusst werden, dass sich der Name ihrer Stadt eingereiht hat in die traurige Liste mit Europas vom Terror getroffenen Städten. Paris, Nizza, Berlin, Madrid, London, Manchester, Brüssel. Jetzt auch Wien. Mittlerweile hat sich die Terrormiliz IS zu der Tat bekannt.
Am Montagabend noch lässt der Föhn die Temperaturen auf knapp 20 Grad steigen. An den IS denkt niemand, Corona ist das Thema. Um Mitternacht wird der neue Lockdown in Kraft treten, die Gastronomie muss wieder schließen, viele Menschen nutzen den Abend für ein vorerst letztes Ausgehen. Die Schanigärten sind voller Menschen, die noch einmal zusammen ein Bier oder ein Achterl Wein genießen wollen. Im sogenannten „Bermudadreieck“, dem traditionsreichen und besonders bei jungen Leuten beliebten Ausgehviertel, stehen sie vor den hippen Bars auf dem Pflasterstein der engen Gassen. Um 20 Uhr fallen die ersten Schüsse.
„Alles wirkte erst so surreal“
Zu dem Zeitpunkt hat Eva Konzett, Politikredakteurin beim Falter, gerade zusammen mit einem Kollegen das Büro verlassen. Tschick holen, bald ist Druckschluss. Die Redaktionsräume der Wochenzeitung grenzen an die Partymeile an, auf der es bald zum Blutbad kommt. Unterwegs zum Zigarettenautomaten hören sie die ersten Schüsse. Zwei Teenager starren sie an und sagen nur „Kalaschnikow“. Dann sind schon die nächsten Salven zu hören. Die Journalisten rennen zurück, sie werden die Nacht mit ihren Kollegen in der Redaktion verbringen müssen. „Alles wirkte erst so surreal“, sagt Eva Konzett.
Die Schüsse, die sie hören, stammen aus dem Sturmgewehr eines zusätzlich mit einer Pistole und einer Machete sowie einer Sprengstoffgürtel-Attrappe bewaffneten Mannes, der nur wenige Dutzend Meter entfernt in die Menge und wahllos in Lokale feuert.
Auch in das Restaurant „Salzamt“, in dem ein durch einen Schuss in die Schulter verletzter Luxemburger Student Tageblatt-Informationen zufolge an dem Abend jobbte. Eine Kellnerin desselben Lokals wird bei dem Angriff tödlich getroffen. Das Bild einer Blutlache vor dem „Salzamt“ ziert am Tag darauf die erste Seite der Kronen-Zeitung. Ein Mann wird wenige Meter entfernt auf einem Bürgersteig aus der Nähe niedergestreckt. Wenig später kursieren Videos davon im Netz, einige Boulevardmedien übernehmen sie. Eines zeigt den Täter von oben, wie er mit der Waffe in der Hand durch die Gassen zieht, ein Wiener brüllt „Oaschloch!“ aus seinem Fenster. An insgesamt sechs Orten fallen Schüsse.
Um 20.09 Uhr, gibt Österreichs Innenminister Karl Nehammer später bekannt, wird Kujtim F. von Wega-Spezialeinheiten „ausgeschaltet“. Innerhalb der neun Minuten feuern sieben Polizisten ihre Dienstwaffen ab. Der 20 Jahre alte Täter hatte neben der österreichischen auch die mazedonische Staatsbürgerschaft. Nehammer zufolge wollte er im April 2019 nach Syrien ausreisen und sich dort dem IS anschließen. Er wurde jedoch aufgehalten und im April vergangenen Jahres wegen versuchter Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Haft verurteilt.
Am 5. Dezember wurde er demnach als junger Erwachsener vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Knappe elf Monate später fragt sich Österreich, wie es so weit kommen konnte. Der Mann habe die Behörden getäuscht, so Nehammer, ihnen vorgegaukelt, nicht mehr radikal zu sein. Es habe keine Hinweise gegeben, dass der 20-Jährige noch gefährlich sei.
Mit Wiener Klassik durch die Stunden der Angst
Seine neun Terror-Minuten beginnt der vorbestrafte Kujtim F. in der Seitenstettengasse nahe dem Stadttempel der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Synagoge ist zu dem Zeitpunkt bereits geschlossen. Experten halten einen Bezug aber nicht für ausgeschlossen. 1981 töteten palästinensische Terroristen hier zwei Menschen.
Selbst nach dem Tod des Täters kehrt in Wien keine Ruhe ein. Stundenlang bleibt unklar, ob es Komplizen gibt. Auch am Dienstagmorgen wird den Menschen geraten, möglichst daheim zu bleiben. Die Schulpflicht wird aufgehoben, einige Schulen bleiben ganz geschlossen, Straßenbahnen und U-Bahnen fahren noch immer nicht. Später werden Polizisten mit Maschinengewehren die Eingänge der U-Bahnen bewachen.
Am Montagabend, nach den Schüssen und während des allgemeinen Unwissens darüber, ob sich gerade eine koordinierte Terrorattacke wie 2015 in Paris zuträgt, sind die nahen Kulturstätten noch einmal stark besucht. Und es spielen sich erstaunliche Szenen ab. Im Konzerthaus gibt der Perkussionist Martin Grubinger Zugabe um Zugabe, damit die Menschen nicht auf die Straßen strömen, in der Oper beruhigt das Streichquartett die Besucher mit Haydn – Wiener Klassik gegen den Terror des 21. Jahrhunderts. Hotels stellen während der Nacht Dutzende Betten an in der Innenstadt Gestrandete kostenlos zur Verfügung.
Am Dienstagnachmittag sind alle Klänge verhallt. Einzig ein paar vereinzelte Sirenen sind noch zu hören. Eine gespenstische Ruhe hat sich über die Stadt gelegt. Man weiß jetzt zwar, dass Wien auch inmitten eines Terroranschlags funktioniert. Die Politik mahnte zur Vorsicht, Panik wurde vermieden. Die Hilfsbereitschaft der Wiener war groß. Man ahnt aber auch, dass Österreich dieser Abend des 2. November 2020 noch lange beschäftigen wird.
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