100 Jahre Escher Bibliothek: Die mit dem Coolness-Faktor 7.000

100 Jahre Escher Bibliothek: Die mit dem Coolness-Faktor 7.000
Historiker Vincent Artuso, Bibliotheksleiterin Tamara Sondag und Erzieher Jan Guth haben eine Menge Herzblut in die Ausstellung „A look at the past, a vision for the future“, die ab morgen in der Galerie des Escher Theaters zu sehen sein wird, gesteckt Foto: Editpress/Julien Garroy

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Die Escher Bibliothek wird in diesem Jahr stolze 100 Jahre alt. Ein Jubiläum, das es verdient, 365 Tage lang gefeiert zu werden. Seit März sind Bibliotheksleiterin Tamara Sondag und ihr siebenköpfiges Team in Partylaune. Morgen findet der offizielle Festakt zusammen mit einer „Séance académique“ und der Eröffnung der Ausstellung mit Rückblick auf 100 Jahre sowie einem Blick in die Zukunft statt.

Die ersten sechs Monate der Jubiläumsfeierlichkeiten sind vorbei. „Bisher ist alles gut gelaufen und wir konnten ein paar spannende Projekte starten“, sagt die 28 Jahre junge Bibliotheksleiterin Tamara Sondag, die seit vier Jahren für frischen Wind in der Escher Bibliothek sorgt. Die Hundertjahrfeier haben sie und ihr Team genutzt, um noch mehr ihrer Ideen in die Tat umzusetzen. So zum Beispiel das „Buch op Rieder“ in Zusammenarbeit mit dem Escher BiBSS („Bureau d’information besoins spécifiques et seniors“), das seit vergangener Woche Bücher zu Senioren oder Menschen, denen die Fortbewegung schwerfällt, nach Hause bringt. „Das Feedback ist bisher sehr gut“, sagt Sondag.

Seit September bietet die Bibliothek auch Lesungen für „Crèchen“ an. Das hatte jemand an die Wunschmauer auf der Webseite geschrieben, die die Bibliothek seit Februar dieses Jahres neu eingerichtet hat. „Den Wunsch haben wir uns sofort zu Herzen genommen und ein Pilotprojekt gestartet“, erzählt Sondag. Seit knapp zwei Monaten können nun immer montags, mittwochs und freitagmorgens „Crèchen“-Klassen zum Vorlesen kommen. Die Nachfrage ist groß, denn inzwischen kommen auch schon Kindertagesstätten außerhalb von Esch zur Lesung in die gemütliche, neu eingerichtete Vorleseecke.

Wünsche und Feedback

„Bisher ist auf der Wunschmauer noch kein Vorschlag doppelt erschienen“, sagt Jan Guth. Der gelernte Erzieher arbeitet seit zwei Jahren in der Bibliothek und hat der pädagogischen Abteilung einen nennenswerten Aufschwung verschafft. „Die Einträge reichen vom Wunsch nach einer Kaffeemaschine hin zu anderen Öffnungszeiten quer durch den Garten.“ Die Wunschmauer sei jedoch auch zu einer Art Feedbackmauer geworden, auf der die Kunden häufig schreiben, welch gute Arbeit das Team leistet. „Das ist sehr schön zu hören“, sind sich Sondag und Guth, die sehr viel Herzblut in ihre Projekte stecken, einig.

Herzblut und Energie haben sie auch in die Ausstellung gesteckt, die morgen in der Galerie des Escher Theaters eröffnet wird. Dort wird die Wunschmauer, die immer noch Anregungen annimmt, auch zu finden sein. Für den historischen Teil hat sich das Stadtbibliothek-Team Hilfe von einem Experten geholt: Historiker Vincent Artuso hat seit Juni daran gearbeitet, so viel wie möglich über die Vergangenheit der Escher Bibliothek herauszufinden. Etwas Vorarbeit hatte Karin Marquez bereits geleistet.

„Ich habe mich erst gefragt, wo ich überhaupt Informationen zu einer Bibliothek finde. Die Antwort war: vor allem in Zeitungen“, sagt Artuso. Besonders im Tageblatt habe er viel finden können. „Pro Jahrzehnt wurden um die zwölf Artikel über die Escher Bibliothek verfasst.“ Nur sei häufig das Gleiche wiederholt worden. Seine Arbeit bestand also auch darin, das bestehende Narrativ zu hinterfragen.

Von Staub keine Spur

Besonders interessant findet der Historiker, dass auf lange Zeit zu sehen ist, wie die Bibliothek sich immer wieder neu erfindet, weil die Gesellschaft sich neu erfindet. Die Idee bleibt immer die vom Anfang: Kultur, Wissen und geistliche Emanzipation sind die Antwort auf einen Epochenwechsel. In dem Sinne sei die Bibliothek nie staubig, altmodisch oder überholt gewesen. „Es kam immer der Moment, an dem die Bibliothek Gefahr lief, überholt zu werden. Aber es wurde immer eine Lösung gefunden, die den Herausforderungen der Zeit gerecht wurde.“ Das sei auch heute zu sehen. „Die Bibliothek hat eine echte Seele“, meint Artuso.

Bei der Ausstellung in der Galerie des Escher Theaters ist nicht nur die Recherchearbeit des Historikers ausgestellt. Jan Guth hat Interviews mit 14 Zeitzeugen geführt. Menschen, die schon als Kind in der Bibliothek waren und sich noch daran erinnern, wie es war, als noch Personen im Bibliothekshaus in der Emile-Mayrisch-Straße gewohnt haben. Zum einen hat die Bibliothek einen Aufruf gemacht, um Zeitzeugen zu finden, zum anderen haben die Mitarbeiter auch einfach Senioren angesprochen, die die Bibliothek besuchten. Einer von ihnen musste zum Beispiel immer Bücher für seinen Vater ausleihen, der sich als Schmelzarbeiter nicht in die Bibliothek getraut hat. „Der Vater wollte die Welt sehen, wusste aber, dass er die Möglichkeit dazu nie haben würde. Also hat er den Sohn losgeschickt, um Reiseführer auszuleihen“, erzählt Guth.

Zeitzeugen von früher – und heute

Der Erzieher ist der festen Überzeugung, dass die Arbeit mit den Zeitzeugen auch in Zukunft noch weitergehen wird. „Bei der Ausstellung wird bestimmt der ein oder andere mit eigenen Erinnerungen zu uns kommen“, vermutet er. Tamara Sondag ist eine Zeitzeugin besonders im Gedächtnis geblieben. Eine Frau, die als Kind oft in der Escher Bibliothek war, später ein Praktikum dort absolviert hat und heute selbst als Bibliothekarin in einem anderen Institut arbeitet. „Ich denke, es gibt zahlreiche Wege, die sich hier gekreuzt haben. Es ist ein Ort, der viele Menschen ihr Leben lang begleitet“, sagt die Leiterin.

Die Ausstellung wird sich aber nicht nur auf die Vergangenheit konzentrieren. Auch das Hier und Jetzt sowie der Blick in die Zukunft spielen eine Rolle. „Wir haben auch aktuelle Zeitzeugen befragt, Jugendliche, die regelmäßig hierherkommen“, ergänzt Guth. Das Projekt „Mol mir eng Bibliothéik“, das zusammen mit der Kinderbuchautorin und -illustratorin Olga Reiff durchgeführt wurde, findet ebenfalls seinen Platz in der Ausstellung. Gut 90 Kinder haben ihre Traumbibliothek zu Papier gebracht. Ihre Werke werden auch zu sehen sein.

Heute muss es nicht mehr mucksmäuschenstill hier sein, es ist bunt und auch mal laut, wir nehmen uns selbst nicht immer so ernst und krabbeln mit den Kindern auch mal unter die Regale

Tamara Sondag, Bibliotheksleiterin, und Jan Guth, Erzieher

Bei der Ausstellung kann die Bibliothek zeigen, dass sie alles andere als verstaubt ist. „Das war von Anfang an die Idee der Hundertjahrfeier: die Bibliothek nach außen zu tragen“, erklärt Sondag. „Heute muss es nicht mehr mucksmäuschenstill hier sein, es ist bunt und auch mal laut, wir nehmen uns selbst nicht immer so ernst und krabbeln mit den Kindern auch mal unter die Regale“, sagt das Team über sich selbst. Das soll bei der Ausstellung rüberkommen.

Imagewechsel

„Uns liegt auch viel daran, zu zeigen, wie vielfältig der Beruf des Bibliothekars ist“, betont Tamara Sondag. Deshalb besucht die Stadtbibliothek die Studentenmesse, präsentiert sich in Schulen und beschäftigt in den Schulferien Studenten.

Dass sich im Bibliothekswesen hierzulande in letzter Zeit besonders viel tut, hilft diesem Imagewechsel. „Luxemburg hat in Sachen Bibliothekskultur immer sehr hinterhergehinkt“, findet Sondag, die sich auf Reisen gerne die Bibliotheken anderer Länder ansieht. „Endlich haben wir auch Gebäude, die nur dafür konzipiert wurden und in denen an alles gedacht wurde.“

Konkurrenz bietet die Bibliothek in der Hauptstadt oder das „Learning Center“ der Uni auf Belval jedoch nicht. „Wir bemerken diese neuen Bibliotheken eigentlich nur im positiven Sinne“, sagt Jan Guth. Denn Kinderbücher oder praktisch orientierte pädagogische Bücher führt die Bibliothek auf Belval zum Beispiel nicht, weshalb viele Lehrer und solche, die es werden wollen, nach Esch kommen. Außerdem wachse Esch, und Belval sei für viele, die im Zentrum wohnen, zu weit weg. Das betrifft zum Beispiel Studenten, die zum Lernen in die Emile-Mayrisch-Straße kommen.

Und dann gibt es da noch den ganz entscheidenden Faktor: „Unsere Kunden – egal ob jung oder alt – freuen sich immer wieder darüber, dass sie hier mit dem Vornamen begrüßt werden und nicht nur eine Nummer sind“, sagt Jan Guth, „wir haben eben den Coolness-Faktor 7.000.“ Das kann nicht jeder Hundertjährige von sich behaupten.