WandelMit seiner Rolle im Ukraine-Krieg gewinnt Polen an Bedeutung

Wandel / Mit seiner Rolle im Ukraine-Krieg gewinnt Polen an Bedeutung
Ein Aufnahmezentrum für ukrainische Flüchtlinge in Warschau im Juli Foto: Alik Keplicz/AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ist Polen zum NATO-Frontstaat und zum Waffen-Hub nach Kiew geworden. Rechtsstaats- und andere Probleme mit EU und USA sind in den Hintergrund gerückt. Die Kaczynski-Regierung atmet auf.

Die Motoren heulen auf, hart gebremste Reifen hinterlassen dicke Rauchwolken und dauernd kreisen Tankflugzeuge am Himmel. In Rzeszow-Jasionka wird seit Ende Februar oft im Viertelstundentakt gelandet. Der kleine Regionalflughafen am Fuß des Karpatenausläufers Bieszczady ist im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine zum wichtigsten Flughafen Polens geworden. Rund 80 Kilometer weiter östlich beginnt die Ukraine. Dorthin liefern die USA, Großbritannien, Kanada und viele weitere NATO-Mitglieder seit bald einem halben Jahr Waffen und Munition für den Kampf gegen die russische Armee.

„Wir helfen der Ukraine, solange es nötig ist“, betont US-Präsident Joe Biden immer wieder. Und wegen des Krieges im östlichen Nachbarland ist Polen am 24. Februar zum NATO-Frontstaat geworden. Es grenzt nicht nur an die Ukraine, sondern im Nordosten auch an die russische Exklave Kaliningrad (Königsberg), die von Moskau seit Putins Machtantritt vor 20 Jahren hochgerüstet wurde. Dazu kommen über 450 Kilometer Grenze mit Belarus, dessen Langzeitdiktator Aleksander Lukaschenko seit der Protestwelle von 2020 völlig auf Moskau angewiesen ist und deshalb sein Gebiet der russischen Armee bereitwillig für Luftangriffe auf die Ukraine bereitgestellt hat. Immer wieder droht Lukaschenko inzwischen auch Polen mit einem Einmarsch seiner Truppen, falls sein Land „provoziert“ würde.

Warschau hat schon seit Jahren vor Wladimir Putin gewarnt, und es wurde dafür, vor allem nach dem Wahlsieg der rechtskonservativen Kaczynski-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), immer wieder in Brüssel und Berlin verhöhnt. Selbst die NATO betrachtete Russland in seiner Doktrin als Partnerstaat. Doch die „Westplainers“ – die Besserwisser im Westen Europas – hatten das Einsehen, nachdem Putin wortbrüchig in die Ukraine einmarschiert war. Auch dies gibt Polen gehörig Auftrieb. Man habe es ja schon immer gewusst, und schon immer vor faulen Kompromissen und wohlfeilen Geschäften mit dem Kreml gewarnt, sagen heute Regierung wie liberale Opposition.

„Humanitäre Weltmacht“

Auf dem jüngsten NATO-Gipfel wurde dieser schmerzhaften Einsicht endlich Rechnung getragen: Russland ist kein Partner mehr, sondern ein Feind – und Polen bekommt erstmals seit dem NATO-Beitritt vor 25 Jahren feste US-Truppen-Basen. Die bisherige Rotationsbasis aus Rücksicht auf den Kreml wurde über Bord geworfen. Das Fünfte Korps der US-Truppen in Europa zieht noch dieses Jahr nach Poznan, rund 300 US-Offiziere werden dort fest stationiert, und dazu werden Tausende zusätzlicher NATO-Truppen erstmals mit schweren Waffen die NATO-Ostflanke stärken.

„Die Besser-Wessis haben verloren – Warschau hatte recht, dies ist die Lehre aus dem Ukraine-Krieg bisher“, kommentiert der Politologe Piotr Andrzejewski vom angesehenen „West-Institut“ in Poznan. Alleine schon dies gäbe dem nun auch geostrategisch wichtigeren Polen enormen Auftrieb auf dem internationalen Parket. „Dazu kommt die Aufnahme von rund drei Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, als Gäste in Hunderttausenden von Familien statt in Flüchtlingslagern weggesperrte, bloß auf Zeit Geduldete“, unterstreicht Andrzejewski. „Polen ist durch diese Art des Umgangs mit Flüchtlingen zu einer humanitären Weltmacht geworden“, so der Experte aus Poznan, der baldigen US-Offiziersstadt.

Aus dem EU-Problemkind mit Rechtsstaatsproblemen, LGBT-freien Zonen, einem praktisch vollständigen Abtreibungsverbot, Versammlungsverboten und staatlichen Versuchen, die Pressefreiheit einzuschränken … ist ein Primus nicht nur in Europa, sondern der ganzen westlichen Welt geworden. Selbst Brüssel drückte Ende Juni beide Augen zu und gab nach einer gesetzlichen Begrenzung der umstrittenen PiS-Justizreform monatelang eingefrorene 35 Mrd. Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Polen frei. Noch fließt das Geld nicht nach Polen, noch hat sich Brüssel nicht direkt mit Zahlungen an der Flüchtlingslast beteiligt, doch das Signalzeichen ist klar: Polen ist gut; und der Brüsseler Spießrutenlauf für PiS-Politiker könnte vorbei sein, wenn Warschau nicht neues Öl ins Feuer gießt.

Fortschreitende Integration

Dies alles scheint Auswirkungen bis auf Polens Kinderspielplätze zu haben. Im Warschauer Skaryszewski-Park wird auch am Freitag wild um sich geschossen. Die einen Dreikäsehochs rufen auf Ukrainisch, die andern auf Polnisch zu Sieg und Heldenmut. Jeder siebte Hauptstadtbewohner stammt mittlerweile aus der Ukraine. Die Hälfte der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, meist Frauen, ist bereits in den Arbeitsmarkt integriert. Dies sind Integrationsleistungen, von denen andere westliche EU-Mitglieder nur träumen können.

Damit brüstet sich nicht nur die PiS-Regierung, die sich 2015 noch vehement gegen die EU-weite Umverteilung von Flüchtlingen „nach deutschem Diktat“ gestemmt hatte. Der neue multikulturelle Charakter Polens hat auch die Bevölkerung mobilisiert. An vielen Balkonen wehen nicht nur ukrainische und polnische Flaggen, manche Polen haben dazu auch Belarus’ oppositionelles Weiß-Rot-Weiß mitsamt dem Pogon-Ritter drapiert.

„Die Republik Polen-Litauen wird dank der Flüchtlinge gerade wiedergeboren“, frohlockt auf einer Parkbank neben dem Spielplatz die Rentnerin Halina G.. In den Jahren 1569-1795 hatten sich Polen und das damalige Litauen, welches das heutige Belarus und Teile der heutigen Ukraine umfasste, zu einer Regionalmacht vereint, die vom Schwarzen Meer bis zum Baltikum reichte, und Preussen, Russland und dem Ottomanischen Reich die Stirne bot. „Damals war Polen in der Tat wichtig in Europa; heute könnte es dies mit Joe Bidens und Wladimir Putins Hilfe wieder werden“, sagt die Rentnerin. Bereits hat Selenskyj einen lockeren neuen Staatenbund Polen-Ukraine ins Gespräch gebracht. Dies ist Balsam auf geschundene polnische Patrioten-Seelen à la Jaroslaw Kaczynski.