„Massiver Widerstand“Steuert Großbritannien auf einen Generalstreik zu?

„Massiver Widerstand“ / Steuert Großbritannien auf einen Generalstreik zu?
Generalsekretär Mick Lynch (M.) und Eddie Dempsey (r.), stellvertretender Generalsekretär der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT), stehen vor dem Londoner Bahnhof Euston, an einem Streiktag der Gewerkschaft Foto: Aaron Chown/PA Wire/dpa

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Britische Gewerkschafter haben begonnen, nach einem Generalstreik noch in diesem Jahr im Vereinigten Königreich zu rufen. Falls Außenministerin Liz Truss im September Premierministerin werde und – wie von ihr angekündigt – das Streikrecht auf der Insel abbauen wolle, müsse sie mit „massivem Widerstand“ rechnen, hat Mick Lynch, der Vorsitzende der Eisenbahner- und Transportarbeiter-Gewerkschaft RMT, erklärt.

Auch die Vorsitzende des Britischen Gewerkschaftsbundes TUC, Frances O’Grady, beschuldigte Truss und die Regierung diese Woche einer „Attacke ohnegleichen auf eine fundamentale britische Freiheit“ – nämlich auf das Recht, bei Tarifkonflikten „kollektiv die Arbeit niederzulegen“. Ein Versuch der Regierung, das Streikrecht in Großbritannien infrage zu stellen, wäre ein „beispielloser Angriff“ auf alle abhängig Arbeitenden im Lande, dem man entschieden wehren müsse, sagte sie.

RMT-Chef Lynch ging darüber hinaus: „Truss will offenbar Gewerkschaftsarbeit in Großbritannien für illegal erklären.“ Sollten ihre Vorschläge Gesetz werden, müsse sie mit dem Widerstand der gesamten Gewerkschaftsbewegung rechnen – einem Widerstand, wie es ihn seit „dem Generalstreik von 1926“ nicht mehr gegeben habe im Königreich.

Truss will offenbar Gewerkschaftsarbeit in Großbritannien für illegal erklären.

Mick Lynch, Vorsitzender der Eisenbahner- und Transportarbeiter-Gewerkschaft RMT

Provoziert hatte Truss die Warnungen der Gewerkschaftsseite mit ihrer Ankündigung, nach der von ihr erhofften Wahl zur Tory-Chefin und ihrem Einzug in Nummer 10 Downing Street im September das Streikrecht „binnen 30 Tagen“ radikal einzuschränken. Ebenso wie ihr Rivale Rishi Sunak besteht die führende Kandidatin beim Kampf um die Boris-Johnson-Nachfolge auf einem gesetzlichen Minimum für die Zahl an Transportarbeitern, die bei einem Streik an der Arbeit bleiben müssten, damit der Verkehr grundsätzlich weiterlaufen kann.

Truss will diese Mindest-Regelung aber nun auch ausweiten auf Schulen, das Postwesen und den gesamten Energiesektor. Für jeden Bereich soll ein Minimum an Beschäftigten festgelegt werden, das den jeweiligen Betrieb aufrechterhalten soll. Die Ministerin will außerdem durchsetzen, dass bei Urabstimmungen statt wie bisher 40 Prozent der jeweiligen Belegschaft künftig mindestens 50 Prozent für Streik stimmen müssten – was Streikbeschlüsse vor allem in Kleinbetrieben erheblich erschwert.

„Lächerliche“ Lohnerhöhungen

Außerdem sollen Urabstimmungsbeschlüsse nicht mehr sechs Monate Gültigkeit haben, und mehrfache Streiks in dieser Zeit erlauben, sondern in kürzerer Folge neu erforderlich sein. Und die Zeitspanne zwischen einem Urabstimmungsbeschluss und dem ersten Streiktag soll von zwei auf vier Wochen verlängert werden.

Das soll es Unternehmern erleichtern, rechtzeitig vor Streikbeginn „Agenturarbeiter“ – also Streikbrecher – anzuheuern. Dass streikende Arbeiter für die Dauer eines Streiks durch Agenturleute ersetzt werden können, ist bereits von der Tory-Fraktion im Unterhaus beschlossen worden.

Hintergrund dieser Maßnahmen ist die Welle an Arbeitskämpfen, die Großbritannien zurzeit erlebt, beziehungsweise in Kürze erwartet. Diese Woche fand bereits der vierte Eisenbahnerstreik des Sommers statt. Drei weitere Streiktage sind geplant, und auch die Londoner U-Bahn soll am 19. August wieder stillstehen.

Gestern stimmten die Arbeiter Felixstowe, des größten Containerhafens Großbritanniens, für Streik. Das könnte ernste Auswirkungen auf den britischen Handel haben. Gestreikt hat bereits auch einer der großen Anwaltsverbände des Landes. Die britischen Pöstler haben sich ebenfalls für Arbeitskämpfe entschieden. Für September bereiten Lehrer und Ärzte Streikaktionen vor.

Labour lässt es an Solidarität fehlen

Ihre Streikbereitschaft begründen die Betreffenden mit „lächerlichen“ Lohnerhöhungsangeboten und oft auch verschlechterten Arbeitsbedingungen bei gleichzeitig dramatisch gewachsenen täglichen Lebenshaltungskosten. Die Inflation ist auf über neun Prozent geklettert und soll bald schon elf Prozent erreichen. Allein Gas- und Elektrizitätsrechnungen werden pro Jahr und Haushalt Tausende von Pfund höher liegen als im Jahr zuvor.

Brisant sind die neuen Arbeitskämpfe freilich auch für die oppositionelle Labour Party, die den Gewerkschaften traditionell eng verbunden ist. Um mehr bürgerliche Wähler für Labour zu gewinnen, hat Parteichef Keir Starmer die Mitglieder seines Schattenkabinetts angewiesen, sich von der Streikfront fernzuhalten und das Feld den Tarifparteien zu überlassen.

Dieser Anweisung ist aber nicht jeder gefolgt. Und am Donnerstag enthob Starmer Sam Tarry, einen seiner Schatten-Staatssekretäre für Verkehrspolitik, seines Amtes, weil Tarry tags zuvor an der Seite von Streikenden aufgetreten war und bei Interviews keine Rücksicht auf die offizielle Linie nahm. Die Labour-Linke, der Tarry angehört, klagt nun, Starmer lasse es an Solidarität mit den Streikenden fehlen. Auch moderate Labour-Leute fürchten, dass jetzt in der Partei eine gefährliche neue Kluft entsteht.