Tour de FranceKolumne von Petz Lahure: Veni, vidi, Vingegaard

Tour de France / Kolumne von Petz Lahure: Veni, vidi, Vingegaard
Jonas Vingegaard, der Sieger der Tour de France, mit seiner Frau Trine Hansen und ihrem Kind Frida   Foto: Tim De Waele/Pool Getty Images via AP/dpa

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Vor 25 Jahren, am 27. Juli 1997, gewann Jan Ullrich die Tour de France. Es war der erste Sieg eines Deutschen bei der „Grande Boucle“. Viele sagten dem damals 23-Jährigen (geb. am 2.12.1973 in Rostock) eine zehnjährige Herrschaft im internationalen Radsportgeschäft voraus.

Ullrich gewann noch die Vuelta (1999), den Olympiatitel auf der Straße (2000 in Sydney) und die Tour de Suisse (2004). Die Frankreich-Rundfahrt beendete er fünfmal auf dem zweiten Patz (1996, 1998, 2000, 2001, 2003). Im Jahr 2004 wurde er Vierter und 2005 Dritter, doch einen zweiten Gesamterfolg schaffte er nie.

Das Beispiel Ullrich verdeutlicht, dass Vorsicht geboten ist, wenn man einen neuen Supermann auf dem Rennrad entdeckt zu haben glaubt.

Erst Bernal, dann Pogacar …

2019 holte sich Egan Bernal den Sieg in der „Grande Boucle“. Der zu diesem Zeitpunkt 22-Jährige (geb. am 13.1.1997 in Bogota) sorgte dabei für den ersten Tour-Erfolg eines Kolumbianers. In den großen Radsportställen ging die Angst um. Bernal würde fortan zuschlagen wie einst Eddy Merckx, hieß es. Er sei der neue „Kannibale“. Auf Dauer könne ihn niemand bezwingen.

Schon 14 Monate später (die Tour 2020 war wegen der Covid-19-Pandemie in den September verlegt worden) tauchte ein neuer „Menschenfresser“ auf. Tadej Pogacar aus Slowenien wurde mit 21 Jahren und 365 Tagen (geb. am 21.9.1998 in Komenda) der zweitjüngste Sieger aller Zeiten nach Henri Cornet, der die Rundfahrt im Jahr 1904 mit nur 19 Jahren und 352 Tagen davontrug.

Der Slowene holte sich nicht nur das Schlussklassement („Maillot jaune“), sondern auch die Wertungen des besten Jungfahrers („Maillot blanc“) und des besten Bergfahrers („Maillot à pois“).

Ein Jahr danach (2021) gewann Pogacar ein zweites Mal die drei Klassemente und wirkte dabei so souverän wie vor ihm Eddy Merckx, sein großes belgisches Vorbild. „Ich will aber nicht mit Merckx oder einem anderen großen Fahrer verglichen werden“, so der Slowene. „Jeder Sportler ist anders, jeder hat seine eigene Persönlichkeit.“

… und jetzt Vingegaard

Die große Entdeckung der Tour 2021 war ein unscheinbarer Däne namens Jonas Vingegaard. Der damals 24-Jährige (geb. am 10. Dezember 1996 in Hillerslev, einem kleinen Ort im Nordwesten des Königreiches), sollte eigentlich als Helfer seinen Kapitän Primoz Roglic in den Bergen so lange wie möglich begleiten und zum ersten Tour-Erfolg führen.

Durch Roglics Ausfall bot sich Vingegaard eine einmalige Chance, umso mehr als Jumbo-Visma-Reserveleader Steven Kruijswijk schon nach dem Zeitfahren in Laval (5. Etappe) einen Rückstand von 3‘41“ auf Tadej Pogacar aufwies.

Vingegaard büßte voriges Jahr auf der dritten Etappe 1‘20“ ein, weil er auf den gestürzten Primoz Roglic wartete. Zum Verhängnis wurde ihm die stressige Fahrt durch den Regen nach Le Grand Bornand, wo Pogacar 3‘20“ vor ihm ins Ziel kam. Tags darauf war die Sache definitiv gelaufen, als der Slowene ihm nochmals 32 Sekunden abknöpfte.

Im Jahr 2022 sollte nun der Knoten definitiv platzen. Vom Jumbo-Visma-Management wurde die Saison des Dänen ausschließlich auf die Tour de France ausgerichtet. Vingegaard bestritt vor dem großen Juli-Rendezvous nicht viele Rennen. Im Februar eröffnete er die Vorbereitung mit der Faun Environment Classic de l’Ardèche Rhône Crussol (Platz 33) und der La Drôme Classic, die er gewann.

Bei Tirreno-Adriatico klassierte er sich auf Rang 2, beim G.P. de Denain Porte du Hainaut als 75. In der Baskenland-Rundfahrt wurde er 6., die Klassiker in Belgien (Flèche Wallonne und Liège-Bastogne-Liège) fuhr er nicht zu Ende. Vor der Tour bestritt er nur noch das Critérium du Dauphiné, wo er die Schlussetappe gewann und hinter seinem Teamgefährten Primoz Roglic den 2. Gesamtplatz belegte.

Die Maschine Van Aert

Vingegaard, der als ganz junger Mann in einer Fischfabrik in Hanstholm, Region Nordjylland, im Norden Dänemarks arbeitete (er legte den Fisch auf Eis und bereitete ihn zum Schneiden vor), begann seine Karriere 2016 im Continental-Team ColoQuick. Dort lachte er sich die um elf Jahre ältere Kommunikationsbeauftragte Trine Marie Hansen an. Beide sind inzwischen ein Paar und seit September 2020 Eltern einer kleinen Tochter namens Frida.

Im Jahr 2018 wechselte Vingegaard zu Jumbo-Visma. Seinen ersten WorldTour-Erfolg verbuchte er 2019 auf der sechsten Etappe der Polen-Rundfahrt. Seine erste Grand-Tour war 2020 die Vuelta (Platz 46), im Jahr danach (2021) wurde er als Ersatz für Tom Dumoulin ins Tour-de-France-Team von Jumbo-Visma nominiert. Den Rest kennen wir.

Auf den Straßen Frankreichs konnte sich Vingegaard in den letzten drei Wochen auf eine überaus starke Mannschaft verlassen, allen voran auf Wout van Aert, der sich nicht nur das „Maillot vert“ holte, sondern verdientermaßen auch mit dem Preis des kämpferischsten Fahrers der Tour („Super combatif“) belohnt wurde.

Es schien, als ob man den Belgier täglich beim Start wie eine mechanische Uhr aufgezogen und dann in den Automatik-Modus versetzt hätte. Van Aert war überall anzutreffen, meistens vorne, wo er auf der entscheidenden Etappe nach Hautacam mit seinem Leader im Schlepptau den nach einem Sturz am Hintern lädierten Tadej Pogacar wie einen lästigen und überflüssigen Anhänger abkoppelte.

Verdächtigungen

Natürlich wurden wie immer in den letzten Jahren Stimmen laut, die behaupten, ohne „Hilfsmittel“ wären Leistungen, wie sie insbesondere Vingegaard und Pogacar in den Steigungen vollbrachten, nicht machbar.

Professor Antoine Vayer, der spätestens seit seiner Zeit als Festina-Betreuer (1995-1998) wissen muss, wie man die Gegner richtig und mit System betrügt, malt auf der Homepage cyclisme.dopage.com den Teufel an die Wand. Er, der wahrscheinlich lieber seinen Landsmann David Gaudu (4. im Schlussklassement) auf dem obersten Treppchen des Podiums gesehen hätte, errechnete, dass Jonas Vingegaard (1,75 m groß, 60 kg schwer) in der Steigung nach Hautacam 6,32 Watt pro kg Körpergewicht auf die Pedale brachte. Was vor ihm nur einer wie Lance Armstrong schaffte.

Seit jeher müssen Sportler im Allgemeinen und Radsportler im Besonderen mit Verdächtigungen leben. Kritiker wird es immer geben, und das nicht nur in Sachen Doping.

Wenn zwei das Gleiche tun

So wird beispielsweise die von Herzlichkeit geprägte Fairplay-Geste von Vingegaard, der auf den gestürzten Pogacar wartete und ihm danach die Hand drückte, anders gewertet als die aus Publicity-Gründen eiskalt kalkulierten Handschläge zwischen Lance Armstrong und Jan Ullrich in den Jahren 2001 und 2003.

Damals wartete zuerst der Amerikaner auf den in einen Graben gestürzten Deutschen, zwei Jahre später schaltete Ullrich einen Gang zurück, als Armstrong zu Boden gegangen war.

Den Luxemburger Radsportferventen wird die Rundfahrt in bester Erinnerung bleiben. Elf Jahre nach Andy Schleck gab es wieder einen Etappensieg durch Bob Jungels, der die Tour auf dem ausgezeichneten 12. Platz beendete. Für Jungels wurde das Rennen zu einer Art Auferstehung. Er strafte viele Kritiker Lügen und bewies sich und seinem Arbeitgeber, dass in Zukunft noch mit ihm zu rechnen ist.

Für Kevin Geniets, den zweiten Luxemburger, der die Champs-Elysées von Paris erreichte, dürfte die lange und schwere Fahrt durch Frankreich mehr als eine tolle Erfahrung gewesen sein. Bei seiner Maiden-Tour wurde Geniets 48. Und immerhin achtbester Jungprofi. Das sagt genug …

*) Der Titel ist abgeleitet vom lateinischen „Veni, vidi, vici“ („Ich kam, ich sah, ich siegte“)