ForumPutins weltweite Ernährungskrise

Forum / Putins weltweite Ernährungskrise
 Foto: Ukrinform/dpa

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Klimakrise, der Covid-19-Pandemie und steigender Energiepreise war ein Krieg in Europa das Letzte, was dem fragilen globalen Ernährungssystem noch fehlte. Angesichts der bis zu 50 Millionen Menschen weltweit, die mittlerweile am Rande einer Hungerkatastrophe stehen, bezahlen nicht nur die Menschen in der Ukraine den Preis für die Invasion ihres Landes durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Aufgrund der russischen Schwarzmeerblockade sitzen rund 20 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Häfen fest – diese Menge entspricht dem Jahresverbrauch aller am wenigsten entwickelten Länder. Doch selbst bei Freigabe dieser Lieferungen würden sie nicht ausreichen, denn Putins Invasion ist nur der jüngste Schlag gegen ein globales Ernährungssystem, das bereits davor kaputt war. Die Welt muss sich jetzt auf eine Nahrungsmittelkrise vorbereiten, die nicht Monate, sondern Jahre dauern wird.

Derzeit handelt es sich dabei um eine Preiskrise, wobei der von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen geführte Index auf ein Rekordhoch gestiegen ist. Nächstes Jahr um diese Zeit könnte es jedoch bereits zu einer Krise der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln kommen. Unser neuer Bericht über die weltweiten Auswirkungen des Ukraine-Kriegs zeigt, wie negativ sich die unterbrochene Anbausaison auf die landwirtschaftlichen Exporte der Ukraine auswirken wird, während die – durch den Konflikt verschärfte – weltweite Düngemittelknappheit die Fähigkeit vieler Länder zur Selbstversorgung gefährden wird.

Die diesjährige Weizenernte in der Ukraine – die normalerweise für 10 Prozent der weltweiten Weizenexporte verantwortlich ist – wird wohl um 42 Prozent geringer ausfallen als im Jahr 2021. Der ehemalige ukrainische Landwirtschaftsminister Roman Leschtschenko geht davon aus, dass der Pflanzenbestand im Jahr 2022 auf weniger als die Hälfte des Vorkriegsniveaus sinken könnte. Das deutet darauf hin, dass der Schaden für die Ernte des nächsten Jahres bereits angerichtet ist. Und wenn die Kämpfe dann schließlich ein Ende haben, wird der Wiederaufbau von landwirtschaftlichen Betrieben, Anbauflächen und Lagermöglichkeiten Jahre dauern.

Unheilvolle Preisspiralen

Die Auswirkungen der russischen Invasion auf das Ernährungssystem machen allerdings nicht an den Grenzen der Ukraine halt. Die durchschnittlichen Düngemittelpreise, die im vergangenen Jahr um 80 Prozent gestiegen sind, haben sich seit Anfang 2022 aufgrund einer Kombination aus russischen Ausfuhrbeschränkungen und Sanktionen des Westens um weitere 30 Prozent erhöht. Chemische Düngemittel bilden das Rückgrat der modernen Landwirtschaft. Mit ihnen gelang es, seit den 1960er Jahren die weltweite Getreideproduktion zu verdreifachen und damit das schnellste Wachstum der Weltbevölkerung in der Geschichte zu ermöglichen. Die weltweite Düngemittelknappheit bedeutet, dass sich die Länder heute mehr denn je selbst versorgen müssen.

Wie die rasant steigenden Preise im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten zeigen, sind auch die Industrieländer nicht gegen die globalen Auswirkungen des Konflikts gefeit. Doch für viele bereits am Rande der Instabilität taumelnde Länder ist die Lage verzweifelt. In Sri Lanka, wo die jährliche Inflation derzeit 54 Prozent beträgt, sind über 80 Prozent der Bevölkerung gezwungen, Mahlzeiten auszulassen. In ähnlicher Weise hat der Hunger in der Sahelzone ebenfalls Rekordwerte erreicht.

Auch humanitäre Organisationen sind betroffen. Rekordverdächtige Lebensmittelpreise und drastisch steigende Transportkosten – das Ergebnis der Anstrengungen reicher Länder, sich Energiequellen außerhalb Russlands zu sichern – erweisen sich zunehmend als tödliche Kombination für die 274 Millionen Menschen, die nach Schätzungen der Vereinten Nationen in diesem Jahr humanitäre Hilfe benötigen werden.

Und das ist erst der Anfang. Die weltweiten Ernährungskrisen der Jahre 2008 und 2012 haben gezeigt, dass Ernährungsunsicherheit bestehende Probleme verschärft und im schlimmsten Fall zu neuen Konflikten führt. In Sri Lanka, das um Nahrungsmittel- und Treibstoffimporte ringt, haben Demonstranten den Rücktritt des Präsidenten erzwungen, während peruanische Landwirte Straßenblockaden errichteten und Geschäfte plünderten, weil die Versorgung mit Düngemitteln unterbrochen ist. Ein neues Modell des Economist deutet darauf hin, dass im nächsten Jahr Dutzende Länder mit einem erheblichen Anstieg „tumultartiger Ereignisse“ wie Konflikten und politischen Unruhen konfrontiert sein werden, während viele andere es mit wirtschaftlichen Verwerfungen zu tun bekommen könnten. Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um die Entstehung eines Teufelskreises zu verhindern.

Wie der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms, David Beasley, in seinem Vorwort zu unserem Bericht erklärt, darf die Politik nicht zulassen, dass der Krieg in der Ukraine Millionen Familien, die in einem tödlichen Kampf gegen den Hunger gefangen sind, endgültig in den Abgrund reißt. In Ermangelung von Patentrezepten zur Lösung der Nahrungsmittelkrise sollte sich die Welt auf ein vordringliches Programm zur Schadensbegrenzung verständigen, ohne dabei die langfristige Perspektive aus den Augen zu verlieren.

Kurzfristig muss die internationale Gemeinschaft gegen die russische Blockade vorgehen und sich für die sichere Durchfahrt und eine Marine-Eskorte für die in ukrainischen Häfen festsitzenden, mit 20 Millionen Tonnen Weizen beladenen Frachtschiffe einsetzen. Außerdem ist auch konzertiertes Vorgehen erforderlich, um reflexartigen Protektionismus zu unterbinden. Seit dem Einmarsch Russlands haben beispielsweise 23 Länder ihre Lebensmittelausfuhren im Ausmaß von 17,3 Prozent der insgesamt gehandelten Kalorien eingeschränkt.

Hier sollten multilaterale Institutionen wie die Welthandelsorganisation die großen Volkswirtschaften ermutigen, sich zu koordinieren und Nahrungsmittelreserven freizugeben, um weitere Preissteigerungen zu verhindern. Die Regierungen können der Preiskrise bei Nahrungsmitteln auch dadurch begegnen, dass sie humanitäre Hilfe für die Bedürftigsten bereitstellen und die Mittel für humanitäre Organisationen aufstocken, die mit steigenden Beschaffungs- und Transportkosten zu kämpfen haben.

Ernährungssicherheit als Waffe

Humanitäre Hilfe allein wird jedoch nicht reichen, um zu verhindern, dass sich eine Preiskrise bei Lebensmitteln zu einer Krise der Verfügbarkeit von Lebensmitteln auswächst. Es gilt, eine verstärkte Eigenversorgung zu fördern, indem wir die Entwicklungsländer ermutigen, ihre Einfuhren zu diversifizieren und zur Steigerung der Ernteerträge neue Technologien der Genom-Editierung einzusetzen. Überdies müssen wir den afrikanischen Ländern helfen, ihre Düngemittelproduktion zu erhöhen. Zahlreiche Länder, darunter Mosambik, Togo, Tunesien und Nigeria, verfügen über beträchtliche unerschlossene Vorkommen jener Rohstoffe, die zur Herstellung eigener Düngemittel und zur Verringerung der Abhängigkeit Afrikas von russischen Lieferungen benötigt werden.

Schließlich macht die derzeitige Krise deutlich, wie wichtig eine bessere Koordinierung des Handels ist. Die kürzlich ins Leben gerufene Afrikanische Kontinentale Freihandelszone verspricht beispielsweise, den intraregionalen Handel anzukurbeln und einen gewissen Schutz gegen künftige externe Schocks zu bieten.

Putins Instrumentalisierung der Ernährungssicherheit als Waffe ist für die derzeitige Krise nicht allein verantwortlich, doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat eine ungünstige Situation noch weiter verschlimmert. Wir stehen vor einem langwierigen Kampf, denn es gilt nicht nur, die Schwarzmeerblockade zu bewältigen, sondern auch jene strukturellen Probleme, die die Welt überhaupt erst so anfällig für Unterbrechungen der Nahrungsmittelversorgung gemacht haben.

* Ruby Osman ist leitende Geopolitik-Forscherin, Jacob Delorme ist Politik-Forscher. Beide arbeiten am Tony Blair Institute.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org