HintergrundDie täglichen Proteste und das EU-Dilemma von Nordmazedonien

Hintergrund / Die täglichen Proteste und das EU-Dilemma von Nordmazedonien
„Abtritt, Abtritt“: Die Demonstranten ziehen allabendlich mit Landesflaggen vor den Regierungssitz in Skopje Foto: dpa/Boris Grdanoski

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Nordmazedonien tut sich schwer mit dem Kompromiss zur Aufhebung der bulgarischen EU-Blockade. Die Opposition warnt vor weiteren Erpressungsversuchen Sofias – und dem „Ethnozid“.

Ein Hagel von Eier- und Flaschenwürfen überschattet die täglichen Proteste. „Abtritt, Abtritt“ fordern die Tausenden von aufgebrachten Demonstranten, die seit dem Wochenende in Nordmazedoniens Hauptstadt Skopje allabendlich mit Landesflaggen vor dem Regierungssitz und Parlament des EU-Anwärters aufziehen.

Vor einer „Bulgarisierung“ des Landes und dem drohenden „Ethnozid“ warnen auch mehrere Oppositionsparteien. „Wir brauchen Europa nicht, falls wir dafür assimiliert werden sollen“, wehrt sich Hristijan Mickoski, der Chef der rechten VMRO-DPMNE, gegen seiner Meinung nach zu weitreichenden Zugeständnissen an den EU-Nachbarn Bulgarien.

Es ist der französische Vermittlungsvorschlag zur Beilegung des Nachbarschaftsstreits mit Bulgarien, an dem sich in Skopje die Geister scheiden. Seit 2020 blockiert Sofia per Veto den von Brüssel längst abgesegneten Auftakt der EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien. Zuvor war es jahrelang Griechenland gewesen, das den Nachbarn bis zu der von Athen erzwungenen Änderung des Landesnamens 2019 den Weg in die EU und NATO versperrte.

Bulgarien sitzt am längeren Hebel

Sofia fordert, dass die Nachbarn die „bulgarischen Wurzeln“ ihrer Sprache und Identität sowie die Rechte der bulgarischen Minderheit per Verfassungsänderung anerkennen: Als EU-Mitglied sitzt Bulgarien gegenüber dem EU-Anwärter Nordmazedonien am längeren Hebel.

Im Herbst 2019 hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch selbst für den Aufschub der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien gesorgt. Nach seiner Wiederwahl präsentierte er Mitte Juni einen von der EU mittlerweile übernommenen und von Bulgariens Parlament abgesegneten Kompromissvorschlag, der den völlig festgefahrenen Erweiterungsprozess wieder in Gang bringen soll.

Ohne die bulgarischen Forderungen explizit zu übernehmen, spricht das Papier von der Notwendigkeit von Verfassungsänderungen zur Stärkung der Rechte der Minderheiten in Nordmazedonien – einschließlich der bulgarischen. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Umsetzung von bilateralen Abkommen wie Skopjes Nachbarschaftsvertrag mit Bulgarien von 2017 betont, die ein „essentieller Bestandteil“ der EU-Integration von Nordmazedonien sei.

Zufriedenheit hat der Macron-Vorschlag eher in Sofia als in Skopje ausgelöst. Mit dessen Annahme habe Bulgarien „sein Veto nicht aufgehoben, sondern seine Macht gestärkt“, jubilierte der Regierungspolitiker Hristo Iwanow, Chef der liberalen DB. Denn hinter den bulgarischen Forderungen stehe nun „die Stärke der europäischen Familie“: „Wenn die Mazedonier nicht ihre Verfassung ändern, werden sie keine Verhandlungen erhalten.“

Tatsächlich regt sich beim leidgeprüften EU-Anwärter Nordmazedonien nicht nur in den Reihen der Opposition die begründete Furcht, dass Sofia bei Annahme des Macron-Vorschlags nach Belieben auf die Erweiterungsbremse treten – und Skopje weiter erpressen könnte. Brüssel wiederum benötigt unbedingt Erfolgsnachrichten. „Jetzt ist es an der Zeit, Ja zu sagen“, drängt der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel, der am Dienstag erneut in Skopje weilte.

Dilemma abgewälzt, aber nicht verkleinert

Gleichzeitig macht nicht nur Brüssel zur Annahme des Kompromissvorschlags Druck, sondern auch der von Sofia bisher mit blockierte EU-Anwärter Albanien. Es wäre ein „großer Fehler“, wenn Skopje den Vorschlag ablehnen würde, warnt Premier Edi Rama: „Dies ist der letzte Vorschlag, es wird keinen anderen geben. Und Ihr wollt nicht, dass Ihr noch weitere 17 Jahre vor der Türe sitzt.“

Mit der Übernahme des Macron-Vorschlags haben die EU-Partner und Sofia die Verantwortung für das mazedonische EU-Dilemma vorläufig auf Skopje abgewälzt, aber dieses keineswegs verkleinert. Trotz der Sorge vor weiteren Schikanen Bulgariens würde zwar auch Nordmazedoniens Premier Dimitar Kovacevski die Kuh am liebsten vom Eis holen – und die von Sofia bisher blockierten Beitrittsverhandlungen zumindest in Gang bringen. Doch weniger die Parlamentsmehrheit für die Absegnung des Macron-Vorschlags als die dort festgeschriebene Verfassungsänderung ist für Skopje ein Problem: Ohne die Opposition scheint die dafür nötige Zweidrittelmehrheit kaum zu stemmen.