Ukraine-KriegRaketen auf Kurort: Russland versucht, Moral der Ukrainer mit Angriffen auf Zivilisten zu brechen

Ukraine-Krieg / Raketen auf Kurort: Russland versucht, Moral der Ukrainer mit Angriffen auf Zivilisten zu brechen
Auf diesem vom ukrainischen Rettungsdienst zur Verfügung gestellten Foto versuchen Feuerwehrleute am frühen Morgen, nach russischen Raketenangriffen, die Flammen in einem Wohnhaus zu löschen Foto: dpa/ukrainischer Notfalldienst

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Einst kamen die Menschen zum Surfen oder für eine Kur nach Serhijiwka. Nun töteten russische Raketen mindestens 21 Menschen. Es ist der zweite schwere russische Angriff auf ukrainische Zivilisten binnen einer Woche.

Schlammkuren und ein Surfer-Paradies haben die ukrainische Kleinstadt Serhijiwka berühmt gemacht. Am Freitag jedoch eilten immer wieder junge Männer mit Teppichen durch zerstörte Wohnblockreihen. Eingewickelt hatten sie Leichen und Verletzte des bisher ersten russischen Raketenangriffs auf den 8.000-Einwohner-Ort südlich der Millionenstadt Odessa. Drei X-22-Raketen trafen zuerst das nahe Schlammkur-Sanatorium von Serhijiwka und dann zwei Wohnhäuser. Bis Freitagnachmittag wurden 21 Leichen aus den Trümmern geborgen; sowie 38 Verletzte, darunter sechs Kinder.

„Die russische Armee greift nur Waffenlager und militärische Ausbildungsstätten der Nationalisten oder der Fremdenlegion an“, protestierte in Moskau am Freitagmittag der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegen den Vorwurf eines erneuten kaltblütigen Angriffs auf Zivilisten in der Ukraine. Erst Mitte der Woche war im zentralukrainischen Krementschuk ein gut besuchtes Einkaufszentrum bombardiert worden. Wie durch ein Wunder gab es nur 18 Tote. Für Einzelheiten verwies der Russe ans Verteidigungsministerium.

Neunstöckiges Wohnhaus fast vollständig zerstört

Laut Recherchen des Odessiter Lokalportals Dumskaja gibt es in Serhijiwka keine ukrainischen Truppen oder Militäreinrichtungen. Rund zehn Kilometer nördlich des beliebten Sommerurlaubsortes mit seinen sechs Sanatorien und fünf Kinderferienheimen befindet sich indes eine strategisch wichtige Straßen- und Eisenbahnbrücke über die Mündung des Fluss Dnistr ins Schwarze Meer, die seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine immer wieder bombardiert wird. Denn über diese Brücke läuft nach der russischen Schwarzmeer-Blockade ein Teil des ukrainischen Getreideexports ins südliche Nachbarland Rumänien und von dort in die ganze Welt.

„Ein neunstöckiges Wohnhaus ist fast vollständig zerstört, nur eine von 106 Wohnungen ist unversehrt“, berichtet Bezirksvorsteher Anatoli Tschednitschenko der Online-Zeitung Dumskaja. Bis zur pro-westlichen Maidan-Revolution von 2014 war der Schwarzmeer-Kurort Serhijiwka vor allem bei russischen Touristen beliebt. Nach der De-facto-Abspaltung zweier pro-russischer Separatisten-Republiken im Donbass im Sommer 2014 wurden in Sanatorien Kriegsflüchtlinge aus dem Donbass einquartiert. Viele von ihnen sind in den letzten acht Jahren in die Hafenstadt Odessa gezogen; die Sanatorien wurden wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Mit dem russischen Raketenangriff dürfte indes die Saison zu Ende sein, bevor sie richtig begonnen hat. Für heute, Samstag, hat die Verwaltung des Oblast Odessa, in dem Serhijiwka liegt, eine Staatstrauer ausgerufen.

Der Angriff auf Serhijiwka erfolgte ausgerechnet einen Tag nachdem sich die russische Armee nach ukrainischen Angriffen von der rund 80 Seemeilen südöstlich von Odessa gelegenen Schlangeninsel zurückgezogen hatte. Die klitzekleine Schwarzmeer-Insel hat einen großen Symbolwert für die Ukrainer. Den Seeweg für den Getreideexport auf die Weltmärkte vermag die strategisch wichtige Insel indes nicht zu sichern.

Laut russischen Militärbeobachtern ging es beim Rückzug der Russen angeblich nur darum, sich im Moment nur noch auf die Eroberung – laut russischer Lesart „Befreiung“ – des 900 Kilometer östlich gelegenen Donbass zu konzentrieren. Dort machen die russischen Invasionstruppen dank massivem Artillerie- und Panzereinsatz in der Tat kleine, aber ständige Fortschritte, teils unter großen Verlusten. In Lyssytschansk, der letzten noch von Kiew gehaltenen Stadt in der Oblast Luhansk, haben die Russen am Freitag eine Raffinerie am Stadtrand besetzt. Auch bei Bachmut und Soledar musste Kiew kleinere Geländeverluste eingestehen. Laut westlichen Militärexperten dürfte die Ukraine die Oblast Luhansk kaum verteidigen können. Die „Schlacht um den Donbass“ soll damit aber noch nicht besiegelt sein.