GroßbritannienAlle Räder stehen still – Gewerkschaft der Eisenbahner fordert Johnson heraus

Großbritannien / Alle Räder stehen still – Gewerkschaft der Eisenbahner fordert Johnson heraus
Während der größte Bahnstreik seit über 30 Jahren das Vereinigte Königreich trifft, werden vor dem Waterloo-Bahnhof in London Flugblätter und Zeitungen verteilt  Foto: AFP/Ben Stansall

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Der größte Bahnstreik seit mehr als 30 Jahren hat am Dienstag in Großbritannien den Verkehr lahmgelegt. Am Anfang des Übels stand eine komplett schiefgegangene Privatisierung. Jetzt setzt eine geschickte Gewerkschaft Premier Johnson unter Druck.

Leergefegte Bahnhöfe, in den Ballungszentren total verstopfte Straßen, riesige Verspätungen – zu Beginn des größten Eisenbahnerstreiks in Großbritannien seit 30 Jahren kam die Verkehrsinfrastruktur auf der Insel weitgehend zum Erliegen. Die Gewerkschaft RMT plant über zwei weitere Streiktage in dieser Woche hinaus bereits eine Ausweitung des Arbeitskampfes. Daran könnten sich demnächst auch Arbeitnehmer aus anderen Sektoren beteiligen, glaubt Frances O’Grady, Chefin des Dachverbandes TUC: „Nach mehr als zehn Jahren Gehaltsstagnation spüren viele Millionen Menschen die dauernde Teuerung am eigenen Leib.“

Der nationalen Statistikbehörde ONS zufolge lag die Inflation zuletzt bei 7,8 Prozent, die Zentralbank sagt für den Herbst eine Teuerung von mehr als elf Prozent voraus. Genau deshalb müssten die Tarifparteien Mäßigung zeigen, argumentierte der konservative Premier Boris Johnson am Dienstag am Rand der Kabinettssitzung: „Wenn wegen Preiserhöhungen dauernd die Gehälter erhöht werden, kommt es zu einer Inflationsspirale.“ Den Berechnungen der Pariser OECD zufolge wird das Königreich 2023 nach Russland das niedrigste Wachstum aller Mitglieder der G20-Nationen erzielen.

Nur der Anfang

Johnson gibt auch deshalb an die privatisierten Eisenbahn-Unternehmen Durchhalteparolen aus, weil im öffentlichen Dienst schwierige Tarifrunden bevorstehen. So haben die mächtigen Lehrergewerkschaften sowie die fürs Krankenhauspersonal zuständige Unite bereits Urabstimmungen angekündigt. Bereits von kommender Woche an wollen Gerichtsanwälte streiken, sie protestieren damit gegen ihre seit Jahren immer schlechter werdende Bezahlung.

Die Lage bei der Eisenbahn ist durch die komplett schiefgegangene Privatisierung durch die damalige konservative Regierung in den 1990er Jahren besonders kompliziert. Die fürs Schienennetz zuständige Firma Railtrack geriet nach mehreren schweren Unfällen zu Beginn des Jahrhunderts in so massive Finanzprobleme, dass die Labour-Regierung unter Tony Blair das Unternehmen in Network Rail (NR) überführte. Einziger Anteilseigner dieser Firma ist der britische Staat. Die derzeit noch 13 Zugbetreiberfirmen hingegen haben ihren Aktionären über die Jahre schöne Milliardengewinne eingebracht, was in der Covid-Pandemie ein jähes Ende fand.

Man habe die Eisenbahn während den schwierigsten Corona-Zeiten mit umgerechnet 18,6 Milliarden Euro unterstützt, brüstet sich Verkehrsminister Grant Shapps. In Zukunft aber müssten die beteiligten Firmen vom Regierungstropf loskommen. In diesem Jahr soll der Subventionstopf sogar 2,3 Milliarden Euro weniger enthalten als in den Jahren vor der Pandemie. Dadurch werden Jobkürzungen unvermeidlich.

Ein wegen des Streiks leerer Bahnsteig in der Grafschaft Kent
Ein wegen des Streiks leerer Bahnsteig in der Grafschaft Kent Foto: AFP/Ben Stansall

„Wir wissen, wie sich das sicher bewerkstelligen lässt“, behauptet NR-Manager Tim Shoveller. Den Unternehmensplänen zufolge werden die meisten Verkaufsschalter für Fahrkarten nach und nach geschlossen, weil immer mehr Passagiere ihre Tickets online erwerben. Zudem sollten Arbeiter und Angestellte einen Teil ihrer Rentenansprüche verlieren, fürchten die NR-Betriebsräte.

Allen Aufforderungen der Opposition sowie der Gewerkschaft, sich des Problems persönlich anzunehmen, hat sich die Regierung verweigert. „Rechtlich gesehen sind wir nicht der Arbeitgeber“, führt Finanz-Staatsminister Simon Clarke zur Begründung an. Stattdessen müssen die Bahnmanager ihr Angebot von zwei Prozent Gehaltserhöhung sowie einem weiteren Prozent bei Zustimmung zum Sozialplan allein verteidigen; RMT-Boss Mick Lynch will bei sieben bis acht Prozent abschließen und wehrt sich gegen Jobverluste.

Dämliche Slogans

Die Eisenbahnergewerkschaften – neben der RMT vor allem Aslef – haben sich dem zu Beginn des Jahrhunderts modischen Trend zur Konsolidierung kleiner Einzelgruppierungen entzogen. Ihrer Schlagkraft scheint das keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil. Mit einer Mischung aus Geschmeidigkeit und Aggression hat die RMT für ihre rund 80.000 Mitglieder immer wieder schöne Lohnerhöhungen und gute Arbeitsbedingungen erzwungen. Man könne die Gewerkschaft leicht für antiquiert, manchmal für geradezu verrückt halten, schreibt beinahe bewundernd das konservative Magazin Economist: „Aber effizient ist sie.“ In der Hauptstadt London gehören der RMT die meisten Fahrer von U-Bahnzügen an, im Rest des Landes vertritt sie vor allem Schaffner, Wartungs- und Reinigungspersonal.

Anstatt die strukturellen Probleme der Eisenbahn umfassend anzugehen, plant die Regierung die Umbenennung der ungeliebten Infrastrukturfirma Network Rail in „Great British Railways“ – um dämliche Slogans sind Boris Johnson und seine Leute bekanntlich nie verlegen.