Deportation von MigrantenEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte stoppt britischen Flug nach Ruanda in letzter Minute

Deportation von Migranten / Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stoppt britischen Flug nach Ruanda in letzter Minute
Auch gestern brachte eine britische Seenot-Rettungsorganisation wieder im Ärmelkanal aufgelesene Migranten nach Großbritannien Foto: Ben Stansall/AFP

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In der letzten Minute schritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein und stoppte den Flug, der am späten Dienstagabend hätte stattfinden sollen. Das Gericht untersagte in einer seltenen Intervention Großbritannien, Asylsuchende nach Ruanda abschieben zu dürfen.

Die britische Regierung hatte für rund eine halbe Million Pfund eine Boeing 767 gechartert, um sieben männliche Flüchtlinge in das 6.500 Kilometer entfernte ostafrikanische Land auszufliegen. Die Straßburger Verfügung machte dem Plan einen Strich durch die Rechnung, da „ein echtes Risiko von irreparablem Schaden“ vorliege.

Die britische Regierung reagierte empört. Arbeitsministerin Therese Coffey erklärte am Mittwoch, dass die Regierung gegen die Straßburger Entscheidung Berufung einlegen werde. Innenministerin Priti Patel sagte, sie sei „sehr überrascht“ und „enttäuscht“, dass der Gerichtshof „interveniert hat, trotz früherer Erfolge in unseren nationalen Gerichten“, die die Abschiebung für rechtens erklärt hätten. „Wir lassen uns nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun“, erklärte sie. Man arbeite daran, die nächste Abschiebung vorzubereiten: „Viele von denen, die nicht auf diesem Flug waren, werden auf dem nächsten sein.“

Wir lassen uns nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun.

Priti Patel, britische Innenministerin

Der im Mai von Premierminister Johnson vorgestellte Pakt mit Ruanda sieht vor, dass Großbritannien dem Land 120 Millionen Pfund zahlt und dafür illegal ins Königreich gekommene Migranten nach Ruanda ausfliegen darf, wo ihr Asylantrag bearbeitet wird. Es ist ein One-way-Ticket: Selbst wenn sie dort als Flüchtlinge anerkannt werden, wird ihnen keine Rückkehr nach Großbritannien erlaubt. Kritiker sehen darin einen Bruch internationalen Rechts. Großbritannien entzieht sich der Verantwortung zum Flüchtlingsschutz.

Zuletzt hatten 25 Bischöfe, mithin die gesamte Führungsspitze der anglikanischen Kirche, in einem offenen Brief gegen die harsche Asylpolitik protestiert. Sie sei eine „unmoralische Politik, die Großbritannien beschämt“, schrieben sie und mahnten an: „Wir dürfen unsere ethische Verantwortung nicht auslagern und internationales Recht missachten, das den Anspruch auf Asyl schützt.“ Auch Oppositionsparteien und Hilfsorganisationen, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen und viele britische Bürger sind entsetzt, besorgt und protestierten. In London versammelten sich am Samstag spontan Hunderte von Bürgern, als Vollzugsbeamte des Innenministeriums einen Flüchtling aufgreifen wollten, und verhinderten dessen Festnahme. Sogar der Thronfolger machte Druck. Prinz Charles ließ in mehreren privaten Gesprächen verlauten, dass er die Ruanda-Deportationen „entsetzlich“ fände.

Innenministerin Patel rechtfertigt ihre Asylpolitik mit dem Kampf gegen kriminelle Menschenschmuggler. Man müsse deren Geschäftsmodell zerstören, argumentiert sie, und mit der Abschiebung nach Ruanda würden Flüchtlinge abgeschreckt. Freilich zeigt ihre Politik bisher keine Früchte. 444 zu null, lautete der Spott am Mittwoch, als bekannt wurde, dass am Dienstag 444 Bootsflüchtlinge in Dover angekommen waren, aber kein einziger Migrant ausgeflogen werden konnte. Denn die Flüchtlingskrise im Ärmelkanal war der Auslöser für die Verschärfung der britischen Asylpolitik. Immer mehr Bootsflüchtlinge wagen die riskante Überfahrt in Schlauchbooten oder kleinen Jollen von Frankreich oder Belgien aus. Die Zahlen sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Kamen 2018 gerade einmal 297 Flüchtlinge über diese Route ins Königreich, waren es im letzten Jahr 28.256 Asylsuchende, gut 20.000 mehr als im Vorjahr. Und in diesem Jahr sind es bis dato schon mehr als zehntausend, doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum 2021.

Militärschiffe gegen Schlauchboote

Kein Wunder, dass Priti Patel unter Druck steht, sie hat schließlich ihr Image als Rechtsauslegerin in der Konservativen Partei zu verteidigen. Sie hatte während des Wahlkampfs im Brexit-Referendum dafür geworben, „wieder die Kontrolle zurückerlangen“ zu wollen, und meinte damit explizit die Kontrolle über Grenzen und Immigration. Jetzt, nach erfolgtem Brexit, steht sie unter Lieferzwang: Die konservative Basis ist empört, dass sie den Flüchtlingsstrom über den Ärmelkanal nicht unter Kontrolle bringen kann, und verlangt Abhilfe. Daher setzt Patel ganz auf eine scharfe Anti-Migrations-Politik. Vor zwei Jahren hatte sie erwogen, Militärschiffe gegen die Schlauchboote einzusetzen. Die Idee, Flüchtlinge auszulagern, ist auch nicht neu. Patel wollte Asylbewerber auf die Ascension Islands, nach Albanien oder nach Ghana schicken. Alle haben dankend abgewunken.

Jetzt also Ruanda. Der Staat in Ostafrika hat nicht die beste Reputation, wenn es um Menschenrechte geht. 2018 erschoss die dortige Polizei ein Dutzend unbewaffneter Flüchtlinge, die gegen die Kürzung ihrer Lebensmittelrationen protestiert hatten. „Willkürliche Inhaftierung, Misshandlung und Folter in offiziellen und inoffiziellen Gefängnissen ist weitverbreitet“, urteilte die Organisation Human Rights Watch und ist sich da mit einer kürzlichen Einschätzung des US-Außenministeriums einig. Premierminister Boris Johnson dagegen pries Ruanda als „eines der sichersten Länder in der Welt“.

JJ
16. Juni 2022 - 9.41

Sie kommen illegal rein,aber sie dürfen nicht illegal raus.