InterviewKommt die nächste Pandemie? Virologe Claude Muller beantwortet die wichtigsten Fragen rund um die Affenpocken

Interview / Kommt die nächste Pandemie? Virologe Claude Muller beantwortet die wichtigsten Fragen rund um die Affenpocken
Er gehört zu den renommiertesten Viren-Experten in Luxemburg: Dr. Claude Muller Foto: Revue/Philippe Reuter

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Die Affenpocken, eine Krankheit, die vorher eigentlich nur von lokalen Ausbrüchen in Afrika bekannt war, verbreitet sich derzeit weltweit. Auch in mehreren europäischen Ländern sind erste Fälle der Infektionskrankheit festgestellt worden. Steht eine neue Pandemie bevor? Und was genau bedeuten die Affenpocken für Luxemburg? Wir haben mit dem Virologen Dr. Claude Muller gesprochen. 

Tageblatt: Zunächst einmal: Was sind Affenpocken überhaupt?

Dr. Claude Muller: Anders als der Name es vermuten lässt, sind die natürlichen Wirte für dieses Orthopoxvirus Nagetiere, nicht Affen. Die Nager werden in der Regel nicht krank davon, die Affen als Fehlwirt allerdings schon. Der Name kommt daher, dass die ersten Fälle der Krankheit 1958 in einer Affenkolonie in Dänemark beobachtet wurden.

Was passiert, wenn sich ein Mensch infiziert?

Wenn Menschen, die empfänglich für diese Krankheit sind – das heißt keinen vorherigen Schutz haben, worauf wir bestimmt gleich noch zu sprechen kommen –, diese Pocken kriegen, kommt es nach einer Inkubationszeit von zwei bis drei Wochen zu ersten Symptomen mit starkem Temperaturanstieg und grippalen Symptomen wie Muskel-, Rücken-, Kopf- und Gelenkschmerzen. Typisch sind geschwollene Lymphknoten und die Pusteln an der Haut, besonders an Kopf, Händen und Füßen. Die Patienten haben die Pusteln mehrere Tage und die ganze Krankheit heilt normalerweise spätestens nach zwei Monaten aus. Das ist der in der Regel mildere Krankheitsverlauf des westafrikanischen Stamms des Virus. Die zentralafrikanische Variante löst eine schwerere Krankheit aus. Diese hat eine Letalität von 10 bis 20 Prozent, während bei der westafrikanischen Variante ein tödlicher Verlauf viel seltener ist (bei 1 bis 4 Prozent). Dabei muss man auch die schwachen Gesundheitssysteme in den endemischen Ländern berücksichtigen. Soweit ich weiß, ist bisher niemand im Zusammenhang mit dem jetzigen Ausbruch gestorben.

Welche der beiden Varianten verbreitet sich denn im Moment?

Der westafrikanische Stamm. Die Fälle, die zunächst in Großbritannien gemeldet wurden, haben eine Verbindung nach Nigeria.

Wie wird die Krankheit übertragen?

Die Affenpocken werden über Körperflüssigkeiten übertragen, zum Beispiel Tröpfchen aus dem Nasenrachenraum. Die meisten kennen das vom Coronavirus, allerdings ist die Infektiosität deutlich niedriger. Die Krankheit kann auch sexuell übertragen werden.

Wenn die Affenpocken schon seit den 50er Jahren bekannt sind, ist die Krankheit also alles andere als neu …

Die Krankheit ist nicht neu. Das Neue ist, dass es außerhalb der endemischen Regionen zu Infektionsketten von Mensch zu Mensch gekommen ist. Seit den 90ern wird immer häufiger beobachtet, dass sich Menschen nicht bei Tieren, sondern von Mensch zu Mensch infizieren. 2003 gab es einen größeren Ausbruch in Nigeria. Im selben Jahr wurden auch erste Fälle außerhalb Afrikas registriert, so etwa ein kleiner Cluster in den USA. Dann ist das Virus wieder verschwunden, auch aufgrund der geringen Infektiösität. Ich habe selbst jahrelang mit, und ein Dutzend Mal in Nigeria, auf menschlichen, tierischen und zoonotischen Viren gearbeitet, aber die Affenpocken wurden kaum zur Kenntnis genommen, weil sie weg waren, bevor sie sich ausbreiten konnten.

Darin liegt auch der große Unterschied zu Corona? 

Ja. Bei Corona hatten wir einen R-Wert (Reproduktionszahl R, mit der die Übertragungsrate gemessen wird; Anm. der Red.) von drei oder vier und mehr. Bei den Affenpocken liegt der Wert weit unter eins.

Wenn die Affenpocken weniger infektiös sind als das Coronavirus, wieso ist man momentan so alarmiert?

Weil sich das Virus etwas untypisch verhält. Warum breitet es sich gleichzeitig in Ländern aus, in denen es bisher nie vorkam? Viele Fälle stehen nicht erkennbar miteinander in Verbindung. Auch ist die Körperverteilung der Pusteln etwas anders. Der sexuelle Übertragungsweg ist zusätzlich bisher nicht berichtet worden. Auch wenn dieser nicht überraschend ist.

Müssen wir uns auf eine nächste Pandemie Affenpocken einstellen?

Nein. Aber das gleichzeitige Auftreten der Krankheit in den westlichen Ländern ist absolut ungewöhnlich und daher beunruhigend. Vorher waren Affenpocken auch nach Reisen in endemischen Regionen eine absolute Seltenheit und das Virus hat sich nicht weiterverbreitet. Jetzt kommt es zur Übertragung von Mensch zu Mensch mit Clusterbildungen in zahlreichen Ländern, in denen das sonst nicht vorkam. Zusätzlich gibt es Einzelfälle, die nicht klar epidemiologisch miteinander in Verbindung stehen. Das ist aus epidemiologischer Sicht beunruhigend, weil immer die Möglichkeit besteht, dass die Infektion „subklinisch“ weitergegeben wird.

Das bedeutet?

Dass Leute die Krankheit weitergeben, die selbst nicht krank sind oder entsprechend diagnostiziert wurden. Da das Virus in afrikanischen Nagern sein Reservoir hat, besteht die Möglichkeit, dass es über infizierte Patienten seinen Weg in europäische Nager findet. Und gegebenenfalls dort heimisch wird und ein Reservoir bildet. Dann müssten wir immer wieder mit Fällen rechnen, zum Beispiel bei Hamsterfreunden.

Also die „Asymptomatischen“, die wir aus der Corona-Pandemie kennen?

Das können asymptomatische sein, aber auch präsymptomatische Personen, die noch in der Inkubationszeit sind. Oder einfach Menschen, die nicht bzw. noch nicht diagnostiziert wurden. Eine lange Inkubationszeit, in der das Virus weitergegeben werden kann, ist immer problematisch.

Bisher waren vermehrt homo- oder bisexuelle Männer von der Krankheit betroffen. Die WHO betont allerdings, dass es keine „homosexuelle Krankheit“ sei. Wie kommt das?

Ich glaube, dass es in der Tat eine Art Verzerrung ist. Wenn zufällig in einer promiskuösen Community eine Person infiziert ist, dann ist bei einer Krankheit, die über Körperflüssigkeiten übertragen wird, das Risiko groß, dass diese sich dort weiter verbreitet. Es ist aber keine Krankheit, die diese Menschen bevorzugt befällt.

Wie wahrscheinlich ist es, dass auch in Luxemburg Fälle auftreten?

Luxemburg ist so groß wie eine deutsche Mittelstadt. Sie fragen mich gerade, wie groß die Chance ist, dass ein Fall in einer bestimmten mittelgroßen Stadt auftritt. Das ist schwer zu sagen und geschieht rein zufällig. Die hohe Auslandsmobilität in Luxemburg macht es jedoch wahrscheinlich, dass Fälle auftreten werden.

Wie würde das hier in Luxemburg ablaufen, wenn ein Fall auftritt?

Man sollte sich gleich bei einem Arzt melden beziehungsweise bei der „Santé“ oder der Abteilung für Infektionskrankheiten am CHL. Die werden einem dann weiterhelfen.

Wie wird das Virus nachgewiesen? Im Blut, im Speichel?

Es wird, wie bei Corona, mit einem PCR-Test nachgewiesen. Allerdings geschieht dies typischerweise an Pustelmaterial, weil erst mit dem Auftreten der Pusteln der Verdacht auf diese ansonsten sehr seltene Krankheit besteht. Wird die Krankheit häufiger, wird man auch bereits bei unspezifischen Symptomen eine Diagnostik einleiten. Das wäre dann an Schleimhautabstrichen. Wann diese positiv werden und inwiefern das Virus auch während der Inkubationszeit nachweisbar ist, dazu gibt es wenig Erfahrung.

In anderen Ländern wurden für infizierte Personen teils lange Quarantänen eingeführt. In Belgien sind es zum Beispiel 21 Tage, also drei Wochen. 

Ja, das stimmt. Ich habe auch von längeren Quarantänen gehört. Infizierte müssen sich isolieren. Diese Isolation kann relativ lange dauern, bis die Krankheit und insbesondere die Pusteln ausgeheilt und nicht mehr infektiös sind. Ich habe aber keinen Einblick, wie das hier in Luxemburg organisatorisch gehandhabt wird.

Würden sich die Strukturen, die sich Luxemburg während der Pandemie aufgebaut hat, auch bei einem möglichen Ausbruch der Affenpocken bewähren?

Ja, auf jeden Fall, aber vieles würde nicht gebraucht, auch weil die Krankheit viel weniger infektiös ist. Wir sind natürlich gerade schneller alarmiert, als es vor der Pandemie der Fall gewesen wäre. Auch die Bevölkerung ist gewohnt, so Corona-müde wir auch alle sind, auf solche oder unspezifische Symptome zu achten. Unsere Gesundheitsstrukturen, auch für die epidemiologische Überwachung, sind in der Pandemie gestärkt worden. Wir haben viel Erfahrung, auch bei der konkreten Umsetzung von Maßnahmen, gewonnen. Zum Beispiel, wenn es um das Contact Tracing bei einem Infizierten geht. Letzteres macht ja auch besonders bei den Affenpocken Sinn.

Was schützt denn vor den Affenpocken? 

Die Pockenimpfung schützt auch vor den Affenpocken zu etwa 80 bis 90 Prozent. In Amerika wurde ab 1972 nicht mehr systematisch gegen die Pocken geimpft. Die älteren Generationen sind ja noch Pocken-geimpft. Sie haben ab dem 50. Lebensjahr noch einen gewissen Schutz. Gefährdet sind also eher die jüngeren, die geboren wurden, nachdem die Pockenimpfung eingestellt wurde. Warum wurde sie eingestellt, fragen Sie sich vielleicht? Weil die Pocken durch die Impfung seit 1980 offiziell weltweit ausgerottet sind. Allerdings wurde schon damals gewarnt: Wenn wir die Impfung gegen die Pocken einstellen, besteht die Gefahr, dass andere verwandte Viren in diese Nische springen. Ich war auch selbst immer wieder an den Diskussionen über die Pockenimpfung beteiligt, als Mitglied des WHO-Steuerungskomitees für Impfungen.

Eine Warnung, die jetzt zur Realität geworden ist.

Genau, das ist jetzt der Fall. Ich kann mich noch sehr gut an diese Diskussionen erinnern, weil ein guter Kollege, Ab Osterhaus, damals Virologe am Erasmus-Krankenhaus in Rotterdam davor gewarnt hat, dass die größte Gefahr von den Affenpocken ausgehe. Er hat recht behalten, wenn auch erst nach 40 Jahren.

Sollten wir nun alle wieder präventiv gegen Pocken geimpft werden?

Es gibt geeignete Impfungen gegen Pocken, die möglich wären. Aber ich glaube nicht, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt angebracht wäre. Wir sollten erst mal beobachten, ob die Infektiosität so niedrig bleibt, wie sie üblicherweise war und weiter ist. Angebrachter als eine allgemeine Impfung wäre eine Ringimpfung für alle, die mit Infizierten in Kontakt kamen.

Gibt es in Luxemburg noch Pockenimpfstoff? Oder müsste man diesen bestellen?

Es gibt sicher keinen Pockenimpfstoff mehr in Luxemburg. Aber es gibt mehrere Impfstoffe, die in den USA und Europa zugelassen sind, um gegen die Affenpocken zu impfen. Die USA haben einen großen strategischen Bestand, auch weil zwei Labore auf der Welt – das eine in Fort Detrick, in Maryland, USA, wo ich übrigens meine Mäuseversuche gemacht habe, als ich am National Cancer Institut arbeitete, das andere am Vector-Institut in Nowosibirsk, Russland – zu Forschungszwecken Pockenviren gelagert haben. Außerdem gab es die Befürchtung, dass Pocken in den Leichen von Verstorbenen, die im Permafrost begraben sind, überleben könnten. Aber wie gesagt, es gibt mehrere kommerzielle Impfstoffe. Ob auch in Europa ein strategischer Vorrat besteht, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich kann mir aber vorstellen, dass einige Länder zumindest genug haben, um Frontline-Arbeiter und das Militär durchzuimpfen.

Wie genau schützt die Impfung? Bekommt man die Krankheit dann überhaupt nicht oder hat man einen leichteren oder asymptomatischen Verlauf wie bei Corona?

Wenn mindestens ein gewisser Impfschutz vorhanden ist, ist der Verlauf der Affenpocken weniger virulent. Möglicherweise bricht die Krankheit aber erst gar nicht aus. Die Pockenimpfung an sich schützt schon sehr gut, man muss allerdings bedenken, dass bei den meisten die Impfung schon Jahrzehnte zurückliegt.